0405 - Fluchtweg durch die Unterwelt
nichts.
Jenny hatte lange genug die Passanten und die Wagen beobachtet. Sie konnte keine Spur einer Beschattung erkennen. Die Grandma würde auch gar nicht wagen, das Leben des Enkels aufs Spiel zu setzen. Sie war deutlich genug gewarnt worden.
Nachher war dieser gut aussehende Kerl gekommen, der sie angelächelt hatte. Gerade da war sie zum Handeln gezwungen. Zum Glück war er Kavalier genug, sie in Ruhe zu lassen.
Sie sah ihn auch später nicht wieder.
Vor dem Eingang zum Kaufhaus war wie immer um diese Zeit ein richtiges Gewühl.
Jenny schloss mit raschen Schritten auf, war dann nicht direkt neben die Oma gegangen, sondern halb zurückgeblieben, hatte über deren Hand die beiden Tragschlaufen des Beutels ergriffen und »Hergeben!«, gezischt.
Dieser Augenblick war der Spannendste und riskanteste der ganzen Aktion.
Jenny war auf alles vorbereitet.
Hätte die alte Frau Lärm geschlagen oder wären plötzlich neben Jenny Männer aufgetaucht, die sie festnehmen wollten, dann hätte sie unter Tränen immer und immer wieder ihre Unschuld beteuert.
»Ich habe sie versehentlich angestoßen, weiter nichts. Was wollen Sie eigentlich von mir?«
Dabei wäre sie geblieben und man hätte ihr nichts, aber auch gar nichts nachweisen können.
Aber es kam kein Protest, kein Geschrei, der Beutel wurde losgelassen, die Frau ging nach einem sichtlichen Schreck weiter, ohne sich umzusehen, und schon war Jenny mit dem Strom der Kunden im Eingang des Kaufhauses verschwunden.
Von jetzt an musste sie rasch handeln, und dabei durfte sie nichts überstürzen.
Jenny war sich inzwischen darüber klar geworden, dass sie unter schärfster Überwachung stehen konnte, obwohl sie nichts davon bemerkt hatte. Kidnapping wurde vom FBI verdammt ernst genommen, und G-men waren keine Holzköpfe.
Diese etwas düsteren Betrachtungen kamen Jenny lerst, nachdem sie mit dem Beutel in der Hand auf den Fahrstuhl zusteuerte. Sie musste sich zwingen, alles Grübeln beiseitezuschieben, um sich nur auf die komrftenden Handgriffe zu konzentrieren.
Sie hatte sich auf eine Überwachung vorbereitet, und sie würde sie abschütteln.
Alle drei Kabinen waren oben, der mittlere jedoch bereits auf der Rückfahrt. Einige Leute standen schon wartend davor. Im Glas der Außentüren konnte sie nach hinten sehen, niemand kam hastig heran, der nach einem Verfolger aussah.
Sie stieg zuletzt ein, blieb an der Tür und ging im ersten Stock sofort wieder hinaus. Bis zum Treppenhaus waren es nur sieben oder acht Schritte. Sie warf, entgegen ihrem festen Vorsatz, einen Blick zurück, als sie schon durch die Tür gegangen war, und stellte fest, dass vom Fahrstuhl niemand nachkam.
Das Treppenhaus war vollkommen leer.
Es konnte keine zehn Sekunden gedauert haben, bis sie in der Toilette verschwand.
Mit dem Augenblick, in dem die Tür hinter ihr zuklappte, begann Jenny zu zählen. Sie hatte so lange mit dem Wecker in der Hand geübt, bis sie die Minuten in allen Situationen mit plus/minus zwei Sekunden im Gefühl hatte.
Das Zählen hatte doppelte Funktion. Einmal verhinderte es, dass sie etwas vergaß, denn wenn plötzlich zehn Sekunden übrig waren, musste sie einen Teil der sorgfältig vorbereiteten Arbeit ausgelassen haben. Zum anderen ließ das Zählen keinen Raum für Grübeleien, Angst und Aufregung. Aus der jagenden Hast wurde ein eiskalt kontrollierter mechanischer Ablauf.
***
Der Zinkeimer stand unangetastet unter dem Waschbecken, und daneben lehnte ein Schrubber mit langem Stiel. Jenny riss ein feuchtes graues Scheuertuch und einen blauen Kittel aus dem Eimer, holte ein angebrochenes Paket Seifenpulver und ein paar Sandalen mit Holzsohlen, alte, verbrauchte Dinger, heraus und stopfte den Beutel mit dem Geld in den Eimer.
Sie schleuderte ihren Mantel, die Brille, die Kappe und die Schuhe hinter die zweite Tür, machte sie zu und drehte mit einem Dreikantschlüssel den Riegel herum. Das Freizeichen war jetzt dem roten Besetztzeichen gewichen.
Sie fuhr in die Sandalen, streifte sich den fleckigen Kittel über und zog den Reißverschluss bis zum Hals hoch. Ein rascher Griff durch das Haar, dann hielt sie die eingezogenen Wangen mit den Backenzähnen fest, ließ den Mund leicht geöffnet, und schon hatte sich das Gesicht verwandelt.
Die Augenbrauen und die Wimpern hatte sie heute ohnehin in natürlichem Zustand gelassen. Jetzt wischte sie mit einem Fetttuch einmal energisch über den Mund und entfernte die leuchtenden Lippenstiftspuren. Mit dem Handrücken
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