0405 - Fluchtweg durch die Unterwelt
wischte sie einmal nach und warf dann die Handschuhe und den Lappen über die verschlossene Tür.
Es war ein glücklicher Zufall, dass sie bis jetzt allein gewesen war und jede Sekunde ausnutzen konnte. Wäre jemand hier drinnen gewesen oder zwischendurch gekommen, dann hätte Jenny sich eben einschließen, und da in der Enge weitermachen müssen. Das hätte etwas Zeit gekostet, wäre aber sonst nicht weiter entscheidend gewesen.
Ein rascher Griff zum Eimer, das Scheuertuch bedeckte den bunten Geldbeutel, an der Seite kam das Paket mit dem Seifenpulver durch.
Die Hand mit dem Schrubber griff zur Tür.
Sie war bis zu »dreiundzwanzig« mit ihrem Zählen gekommen, als sie hinausging. Sie hatte ?wei Sekunden gegenüber ihren Proben zu Hause eingespart.
Die Tür fiel ins Schloss, und Jenny schlurfte auf ihren Holzsandalen hinauf.
Im zweiten Stock kam ihr ein großer, schlanker Mann entgegen. Er warf einen kurzen Blick auf sie und ging weiter nach unten.
Jenny stieg noch einen Stock höher. Auch hier stand wieder, wie im ersten Zwischengeschoss, Waschraum für Kundinnen an einer Tür.
Diesmal war sie nicht allein, es stand eine Dame am Waschbecken. Neben ihr auf den Fliesen war eine große Einkaufstasche abgestellt.
Jenny nickte nur kurz, schloss das letzte Kabinett rechts, das mit Besetzt gesperrt war, mit ihrem Dreikant auf und riegelte sich ein.
Sie stellte den Eimer und den Schrubber ab und machte den Plastikkoffer auf, den sie hier deponiert hatte.
Wieder zählte sie in genaüem Rhythmus den Ablauf der Sekunden.
Bei neunzehn verließ die Kundin den Waschraum, drei Sekunden später kam eine neue, die das Kabinett neben Jenny bezog.
Sie war immer noch darin, als Jenny bei sechsunddreißig mit einer Sekunde Verspätung den Waschraum verließ und zu zählen aufhörte.
In diesen sechsunddreißig Sekunden war aus der Reinmachefrau eine alte, weißhaarige Dame geworden, die mit einem schwarzen Stock, gebückt und etwas schwerfällig, eine halbe Etage höher stieg.
Diesmal traf sie keinen Menschen im Treppenhaus, und sie sah auch nicht über das Geländer, ob jemand folgte. So etwas tun alte Damen nicht.
In dritten Stock - Hausrat und Elektroartikel - wartete sie auf einen Fahrstuhl und ließ sich dann in den achten Stock fahren, wo der Erfrischungsraum lag. Sie fand auf der rechten Seite einen freien Platz an der Wand, der weniger stark beleuchtet war als die übrigen Tische.
Sie nahm aufatmend Platz und bestellte außer dem Kännchen Kaffee noch ein Stück Zitronenschnitte.
Mit ihrem Make-up war Jenny noch nicht zufrieden. Es war dezent, um nicht zu sagen spärlich, denn sie war einfach nicht damit fertig geworden. Im WC-Kabinett war es nicht hell genug gewesen, und mit dem kleinen Puderdosenspiegel in der Hand kam sie daher nur schwer zurecht. Sie hatte wenigstens reichlich Puder auflegen können, das war die Notlösung. Einer älteren Dame verzieh man so etwas.
Eine Kontrolle ergab, dass der eine Mundwinkel nicht ganz korrekt ausgezogen war. Nachdem sie das Stück Kuchen verzehrt hatte, korrigierte sie diesen Fehler, obwohl es im Lokal nicht zum allerbesten Ton gehörte.
Erst zwei, drei Minuten nach ihr war eine Frau mit zwei Kindern hereingekommen, und gleich danach erschienen einige junge Paare, die eingekauft hatten.
Jenny fühlte sich jetzt sicher. Sicher mit einhunderttausend Dollar!
Jetzt wagte sie sogar den kühnen Gedanken, dass es schade um die ganzen Vorbereitungen gewesen wäre, wenn man die Grandma mit ihrem Schatz nicht bewacht hätte. Im nächsten Augenblick bereute sie diesen Gedanken schon und klopfte abergläubisch an ihr Stuhlbein. Man sollte das Schicksal nicht herausfordern, wenn man von den Hüften bis zur Brust ringsherum mit Bündeln von Zwanzig-Dollar-Noten gepolstert war.
Das Geld steckte in einem aus einer doppelten Wolldecke 'zurechtgenähten Mieder. Mit der Belastung ging es sich gebückt leichter, also brauchte sie nicht einmal zu simulieren.
Sie hatte sich eben nach langer Pause eine zweite Portion Kaffee bringen lassen. Es war jetzt kurz nach sechs. Um sieben würde das Haus schließen.
Hier im Erfrischungsraum war niemand mehr von den Gästen, die sie vorfand, als sie hereinkam. Außer der Bedienung schien sich überhaupt niemand um sie zu kümmern.
Der Trick, den sie jetzt vorhatte, schien ihr beinahe unnötig, doch sie hatte ihn so sehr als festen Bestandteil ihres Plans eingebaut, dass sie sich scheute, davon abzugehen. Dieser dritte Teil sollte sie endgültig
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