0406 - Liebesbriefe in Sing-Sing
sahen sich um.
»Miller! White! Wo seid ihr?«, brüllte Blodgett wieder, und seine Stimme schnitt wie ein Messer in die träge, flirrende Hitze.
»Hey, ich bin nicht schwerhörig!«, sagte ein kleiner junger Mann, der hinter Blodgett gestanden hatte, aber unter den großen Männern nicht zu sehen gewesen war.
Blodgett fuhr herum.
»Ah, Miller, da sind Sie ja. Wie steht es? Haben Sie etwas auf Ihrem Film?«
»Na klar, ich hab die Kassetten schon im Wagen!«
»Was ist drauf?«, fragte ich.
Er sah zu mir hoch.
»Nun, wie er eben in die Kurve geht, und dann das Feuer.«
»Und was kurz vorher dort passiert ist?«
»Nein, das nicht, ich hatte die Linse schon auf die Gerade gerichtet, um auf den Wagen zu warten. Aber vielleicht hat Charlie White etwas auf der Rolle, er hatte von da oben die Totale drin.«
Er streckte die Hand aus, und wir sahen alle in die Richtung, die er meinte. Aber außer den dichter werdenden Bäumen auf der anderen Pistenseite erkannten wir nichts.
Ich fühlte plötzlich ein unangenehmes Prickeln auf meiner Kopfhaut.
Obwohl ich eben noch gedacht hatte, ich könnte in dieser Hitze keinen Schritt mehr gehen, obwohl meine Füße und meine Arme brannten und mein Overall zerfetzt war, hatte ich plötzlich wieder die Kraft, loszulaufen.
Ich lief so schnell, dass die anderen mich nicht einholen konnten, obwohl ich an ihrem keuchenden Atem hörte, dass sie mir folgten.
Schon konnte ich zwischen den Bäumen das helle Holz des Turmes erkennen, auf dem ich vorhin kurz den Mann mit der Kamera gesehen hatte.
Aber jetzt war niemand mehr zu sehen.
Ich hörte hinter mir ein Keuchen, als jagte mir eine Büffelherde nach. Ich wandte den Kopf und sah Pit Preston und Mark Senters folgen. Beide bemühten sich offenbar, mich einzuholen. Wenig später sah ich den Kameramann Charlie White regungslos unter dem Holzgestell liegen. Die aufgeklappte Kamera lag ein paar Schritte weiter.
Nach und nach kamen auch die anderen heran. Als sie den Mann sahen, blieben sie stehen.
»Noch ein Mord?«, fragte Clay Blodgett mit jammernder Stimme.
»Quatsch, der ist vom Turm gefallen!«, antwortete ihm Jeff Vancygaard, und seine Stimme war heiser vom Laufen.
Ich hockte mich neben den Mann und untersuchte ihn. Er hatte eine faustgroße Beule am Hinterkopf. Er schien keine inneren Verletzungen zu haben, und er müsste schon nach ein paar Minuten wieder zu sich kommen.
»Er ist nicht tot«, sagte ich zu den anderen, die mich abwartend beobachtet hatten.
»Na also, er ist runtergefallen!«, sagte Vancygaard noch einmal und zeigte auf die Filmkamera, deren Kassettenklappe offen stand. »Man sieht es noch an seiner Kamera, sie ist dabei aufgeplatzt!«
Phil war als Letzter hinter der ganzen Bande geblieben, um sie zu beobachten. Jetzt kam er zu mir und hockte sich neben mich.
»Der hat von hinten eins über den Schädel bekommen, wie?«, fragte er leise.
Ich nickte. »Die Filmkamera ist nicht verbeult. Wahrscheinlich stand er gerade auf der untersten Sprosse.«
Wir sahen beide an dem roh gezimmerten Turm hoch. Wenn man mit einer Kamera im Arm herunterstieg, musste man sich auf die Holzlatten konzentrieren, sodass sich ein eventueller Angreifer leicht anschleichen konnte.
Wir sammelten die herumliegenden Filmbüchsen ein und besahen sie. Sie trugen Aufschriften mit Kreide, Nummern und Zeichen. Wir packten sie zusammen, um sie in unseren Labors zusammen mit den Filmen von Miller entwickeln zu lassen.
Aber ich war mir schon darüber klar, dass der Film, auf den es ankam, nicht dabei war. Der Film war noch in der Kamera gewesen, und der Mann, der Charlie White niederschlug, hatte ihn sicherlich mitgenommen. Denn dieser Film musste doch der Grund des Niederschlags gewesen sein. Ich stand auf und sah die Männer der Reihe nach an.
Aber wenn ich geglaubt hatte, einer von ihnen würde sich verraten, dann hatte ich mich getäuscht. Sie starrten mich alle völlig ausdruckslos an.
Ich gab Phil ein Zeichen, bei dem Verletzten zu bleiben, und stieg den hölzernen Turm hinauf.
Er schwankte unter mir wie ein Bambusrohr, aber als ich oben war und mir einen ruhigen Platz gesucht hatte, hörte er auf zu schwanken. Ich musste nur ruhig bleiben.
Ich sah mich um. Der Blick war wirklich umfassend.
Fast die ganze Piste lag unter mir, ich erkannte die Boxen, die Halle mit den Werkstätten und die Büros - und die Kurve, in der das Unglück passiert war.
***
Was man von hier nicht sehen konnte, war die Strecke, die hinter der Kurve lag;
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