0407 - Am Tisch des Henkers
Abwasserkanals.
***
Leroy Thompson, selbst schon über siebzig, war um Jahre gealtert, als er aus dem Taxi stieg und mit gebeugtem Rücken auf den Eingang des Pubs zuschritt, wo er und seine beiden Freunde sich verabredet hatten.
Thompson trug einen dunklen Binder. Er trauerte um seine Enkelin. Dieser Mord hatte Staub aufgewirbelt wie lange keiner zuvor.
Er war das Tagesgespräch der Londoner, und die Polizei setzte alle Kräfte ein, um den Killer zu finden.
Bisher erfolglos.
Natürlich hätte ihnen Leroy Thompson einiges sagen können. Das ließ er bleiben, er wollte zunächst mit seinen beiden alten Freunden aus Indien reden und dann weitersehen.
Mit zitternder Hand stieß er die Tür des Pubs auf. Es war eine gemütliche Wirtschaft mit alten Holzwänden, an denen vergilbte Bilder hingen. Sie zeigten Soldaten, die in Indien gekämpft hatten.
In diesem Pub trafen sich die Veteranen, hier waren sie unter sich und konnten von ihren Heldentaten und den glorreichen Zeiten reden.
Auch der Wirt hatte zu ihnen gehört. Er betrieb mit seinen Söhnen den Pub; seine Frau war verstorben.
Viele Gäste saßen nicht an den Tischen. Mit Handschlag wurde Leroy Thompson begrüßt. Der Wirt, er trug stolz einen seiner alten Orden, kondolierte Leroy.
»Ja, danke.«
»Wie immer, Leroy?«
»Nein, diesmal nehme ich einen doppelten Whisky.«
»Ist recht.«
Gebückt ging Thompson dorthin, wo seine beiden Freunde saßen.
Es war ein kleiner, runder Tisch. Er stand an einem der Fenster. In der Nähe war kein weiterer Tisch besetzt. Darauf standen nur jeweils die verkleinerten Ausgaben der Regimentsfahnen. So hatte jedes Regiment seinen eigenen Stammtisch.
Doch der Henker hatte Leroy Thompson in ihre ehemalige Stammkneipe bestellt.
Sie hatten sich erhoben, als Leroy den Raum betrat. Ihre Mienen drückten Trauer aus, auch sie trugen aus Solidarität schwarze Krawatten. Die Anzüge passten zu ihnen. Der Schnitt war konservativ.
Leroy Thompson war im Gegensatz zu Sir Reginald Clifton noch sehr rüstig. Der alte Adelige stützte sich auf eine Krücke. Sein Haar war längst ausgefallen. Clifton trug eine Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen unnatürlich vergrößerten.
Arthur Kennon Drinkfield war der ehemalige Offizier noch immer anzusehen. Er hielt sich kerzengerade. Sein graues Haar zeigte einen Mittelscheitel, in einer Augenhöhle klemmte ein Kneifer, und der strichdünne Mund wies immer noch den gleichen arroganten Zug wie zur Kolonialzeit auf.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte Leroy Thompson und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»War selbstverständlich!«, schnarrte Drinkfield.
»Es geht auch euch an!«
»Wieso?«
Der Whisky wurde gebracht. Auch die beiden anderen erhielten ihre Gläser. Die Männer bedankten sich durch kurzes Kopfnicken, hoben die Gläser an, wobei Sir Reginald zitterte, dann tranken sie.
Leroy Thompson hatte ihnen etwas zu sagen, und so warteten sie, bis er das Wort übernahm. Er begann mit schwerer Stimme zu reden. »Dieses Treffen kann unter Umständen unser letztes sein!«
»So?«, fragte Sir Reginald.
Drinkfield fiel fast das Monokel herunter, er sagte aber nichts.
»Ja, denn es ist etwas Furchtbares geschehen.«
»Mit deiner Enkelin!«, fügte Drinkfield hinzu.
»Es hängt tatsächlich mit ihr zusammen.«
»Rede!«
»Die Worte fallen mir schwer, Freunde, das müsst ihr mir glauben. Sogar sehr schwer, aber ich weiß unter Umständen, wer der Mörder meiner Enkelin ist, kann es aber der Polizei nicht sagen, weil es unmittelbar mit uns zusammenhängt. Am heutigen Abend wird sich alles entscheiden.«
»Unser Schicksal?«, fragte Sir Reginald.
»Ja.«
Dann berichtete Leroy Thompson. Er zog seine Freunde ins Vertrauen und erzählte von der Begegnung mit dem Henker, der ihn an alte Sünden erinnert hatte. Mit dem Mord an seiner Enkelin beendete er den Monolog. Nur einen Satz fügte er noch hinzu. »Jetzt seid ihr an der Reihe, meine Freunde.«
Drinkfield griff nach seinem Glas. Er ließ den Whisky kreisen und sagte: »Es ist schwer zu glauben.«
»Das finde ich auch. Nur beweist der Mord an meiner Enkelin, dass der Henker es ernst meint.«
»Viel zu lange her!«, schnarrte Arthur Kennon Drinkfield. »Viel zu lange. Diese Sache mit dem Mädchen…« Er schüttelte den Kopf.
»Wie hieß die Kleine noch gleich?«
»Mari!«, meldete sich Sir Reginald mit krächzender Stimme. »Sie hieß Mari.«
»Ach ja, stimmt.«
»Und sie ist tot!«, erklärte Sir Reginald.
Drinkfield
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