0407 - Am Tisch des Henkers
Aber sie war eine besondere Person. Sie besaß eine Ausstrahlung, der ihr euch nicht entziehen konntet. Sie war kein Kind mehr, aber auch keine Frau. Ein Mittelding zwischen den beiden. Eine Kindfrau. Unschuldig und gleichzeitig erblüht wie eine sich öffnende Knospe. Sie verdrehte euch den Kopf. Nicht nur einem. Bei Clifton fing es an. Er nahm sie als Erste, Drinkfield folgte, und du, Thompson, hast ihr den Rest gegeben. Kannst du dich noch daran erinnern? Erinnert ihr euch alle daran?«
Die Männer schwiegen, aber die Worte des Henkers hatten ihr Innerstes aufgewühlt. Das Blut war zu einem kochenden Brei geworden, die Röte stieg in ihre Gesichter, die Kehle war trocken, und sie bewegten sich unruhig auf den Stühlen hin und her.
Der Henker aber lachte. »Ja, ich merke, dass ihr euch erinnert, obwohl ihr kein Wort sagt. Es ist euch unangenehm, aber ich werde weiter berichten. Das Mädchen Mari war euer Schicksal. Ihr habt sie geschändet, aber ihr wusstet nicht, wer Mari war. Sie war etwas Besonderes, eine Heilige, eine von den Göttern in die Welt gesetzte Botin. Ihr spürtet plötzlich etwas von dieser Kraft. Nicht sie war die Besiegte, sondern ihr. Und ihr habt reagiert. Aus Angst vor ihr und auch davor, dass sie unter Umständen hätte reden können, habt ihr sie mir überlassen. Ich musste mich ihrer annehmen, ich war ja der Henker. Und ich tat es. Ich tötete sie, aber ich brachte es nicht fertig, ihr den Kopf abzuschlagen, denn sie warnte mich. Sie berichtete davon, unter welch einem Schutz sie stand, aber ich hatte meinen Auftrag. Bevor sie starb, verfluchte sie mich und erklärte mir, dass sie ebenso zurückkommen würde wie ich, wenn ich einmal nicht mehr war. Damals lachte ich darüber, aber in den Nächten, wenn ich keinen Schlaf fand und mich die Geister der von mir getöteten Menschen mit ihren heulenden Stimmen quälten, hörte ich auch sie sprechen und immer sagen, dass sie ihr Versprechen einlösen würde. Bis ich wieder in Kontakt mit dem Teufel trat. Er bestätigte die Worte des Mädchens und erklärte mir, dass ich nie eine Heilige hätte töten dürfen. Die indische Rache durfte nicht unterschätzt werden.«
»Aber du bist normal gestorben!«, rief Leroy Thompson.
»Ja, das bin ich. Dank des Teufels, der seinen Schutz über mich ausgebreitet hatte. Er war es, der mir wieder Mut gab, der mir erklärte, dass ich das Schicksal noch ändern konnte, wenn ich wollte. Und natürlich wollte ich. Ich musste dem Satan versprechen, ihm in späterer Zeit drei Seelen zu liefern. Also, ich brauche nur drei Männer zu töten.«
»Du meinst uns!«, rief Drinkfield.
»Ja.«
Die alten Offiziere zuckten mehrmals zusammen, während der Henker weiter berichtete. »Nachdem ich dem Satan das versprochen hatte, hörten Maris Qualen auf. Es dauerte auch nicht lange, dann starb ich. Eine heimtückisch abgefeuerte Gewehrkugel traf meinen Rücken. Auf dem Sterbelager bat ich euch, mir meine Waffen mit in den Sarg zu legen. Ihr habt es getan, und ich brachte sie wieder mit. Bevor ich die Schwelle überschritt, meldete sich Maris Geist noch einmal bei mir. Er erklärte mir, dass wir später wieder zusammenkommen würden. Die Weichen des Schicksals wären von den Göttern gestellt. Wir waren verschieden, aber wir wollten das Gleiche. Mari euren Tod, der Teufel eure Seelen. Beides konnten wir versprechen. Und deshalb habe ich euch herkommen lassen. Hier in dieses Gasthaus, in dem ihr damals nach eurer Rückkehr immer gesessen habt. Ich konnte euch sehen, aber ihr mich nicht. Die Toten können alle Lebenden sehen, wenn sie wollen. Sie sind über alles informiert. Sie sind sogar bei den Lebenden, wenn auch auf einer anderen Ebene. Das Jenseits und das Diesseits verschmelzen miteinander. Sie sind wie zwei Kreise, die zusammenlaufen.«
Über die letzte philosophische Belehrung dachten die drei Männer nicht nach. Sie rekonstruierten die Worte, die der Henker ihnen zuvor gesagt hatte.
Getötet sollten sie werden.
Einfach so.
Schwert und Axt lagen bereit. Damit hatte der Henker stets gearbeitet. Unzählige Opfer gingen auf sein Konto. Er war so grausam und brutal gewesen. Sie hatten sich immer auf ihn verlassen können, auch Mari war von ihm getötet worden, aber nun erhielten sie die Quittung, und sie spürten in ihrem Innern die bohrende Angst, die sich wie eine Klammer um ihre Herzen legte.
Sie schauten sich gegenseitig an. Thompson und Clifton suchten in Drinkfields Gesicht nach einem Schimmer der Hoffnung oder
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