0407 - Am Tisch des Henkers
Anfang machen!«, erklärte er.
Der Henker freute sich. Seine Hand umklammerte den Griff des Richtschwertes noch härter. »Endlich jemand, der sich dazu bekennt. Dann wirst du als Erster getötet.«
Drinkfield hob den Arm. »Einen Moment noch«, sagte er. »Ich habe eine Bedingung!«
»Welche?«
»Ich möchte im Stehen sterben! Ich bin Offizier gewesen. Als Offizier stirbt man nicht im Sitzen!«
Der Henker nickte. Dabei schabte der Stoff seiner Kapuze über die nackte Haut an seiner Schulter. »Es freut mich, dass du so etwas sagst. Du hast wenigstens Mut. Steh auf!«
Drinkfield erhob sich ruckartig. Er sah aus wie eine Witzfigur.
Das Monokel klemmte nach wie vor in seiner Augenhöhle. Die Lippen waren fest zusammengepresst, er atmete durch die Nase, schob den Stuhl zurück und wurde von seinen beiden Freunden aus großen Augen beobachtet.
Leroy Thompsons Gesicht war nass. Sir Reginald stierte Drinkfield an und sah, dass dieser drei Schritte zurückging, bis er fast den nächsten Tisch erreicht hatte.
»Dort?«, fragte der Henker.
»Ja.«
Der Unheimliche stand ebenfalls auf. Dabei hatte er sein Schwert nicht losgelassen. Er zog die blanke Klinge unter dem Stiel der Axt weg und bewegte schüttelnd seinen rechten Arm, als wollte er dessen Geschmeidigkeit prüfen.
Dann ging er vor.
Drinkfield hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Er war der Einzige, der eine Waffe trug. Nicht umsonst hatte er die Pistole eingesteckt. Jetzt zog er sie.
Sofort richtete er die Mündung auf den Henker, der auch stehen geblieben war.
»So!«, sagte Drinkfield. »Und jetzt werde ich mit dir abrechnen, du verfluchter Mörder!«
***
Suko stand im Gang der ersten Etage und lauschte.
»Mari!«, hatte sie gesagt.
Ein wunderschöner Name, ebenso schön wie die gesamte Erscheinung vor ihm. Sie hatte den Chinesen voll in ihren Bann gezogen.
Wie von einem Blitzstrahl war er getroffen worden. Hart, tief und mitten ins Herz hinein. So etwas war ihm noch nie passiert. Suko stand da und vergaß seinen eigentlichen Auftrag.
Er wollte zu Mari.
Und sie hatte nichts dagegen. Sie streckte sogar ihren Arm aus, krümmte den Finger und winkte ihm lockend zu. »Komm doch näher!«, hauchte sie.
»Wirklich?«
»Ja.« Ihre Stimme war so hell und fein. Sie kam Suko vor wie das Geläut eines Engels. Zudem wurde Mari von einer hellen Aura umgeben, die sie aussehen ließ wie eine Geistgestalt.
Eine Märchenfee.
Suko hörte die dumpfe Stimme des Henkers nur noch als gemurmeltes Echo in seine unmittelbare Nähe dringen, und auch dies blieb zurück, als er sich dem Mädchen zunächst mit zögernden Schritten näherte.
Er setzte seine Füße sehr vorsichtig, als würde er über blankes Eis laufen. Noch immer begriff er nicht, was mit ihm geschehen war, er folgte einfach dem Befehl einer fremden Kraft.
Aber Mari wich zurück. Sie behielt Sukos Schrittfolge ebenfalls bei, sodass er ihr nie näher kommen konnte. Nur wollte sie nicht fliehen, sie hatte etwas anderes vor, denn in diesem Gang gab es noch zwei weitere Zimmertüren.
Eine hatte sie sich als Ziel ausgesucht. Rückwärts gehend erreichte sie die Tür, trat über die Schwelle und verschwand in dem dahinter liegenden Raum.
Für einen Moment wurde Suko wieder klar. Er dachte daran, dass es eigentlich Wahnsinn war, was er da tat, aber während dieses Gedankens war er weitergegangen und hatte die Tür erreicht, hinter der das Mädchen verschwunden war.
Schon geriet er wieder in Maris Bann. Ein kurzer Blickkontakt hatte ausgereicht, und seine klare Denklinie war wieder zurückgedrängt worden.
Er betrat das Zimmer.
Es war mehr eine Kammer. Sie war vollgestopft mit Gerumpel.
An der Wand stand eine zerstörte Standuhr. Ein Bett zeigte Schimmel. Es roch nach Staub, und durch das Fenster drang die Kühle der Nacht.
Dass Suko trotzdem etwas erkennen konnte, lag an Mari und deren geheimnisvoller Aura, die so hell war, sodass sich in ihrer unmittelbaren Nähe Licht und Schatten abwechselten.
Sie ging wie eine Königin auf das Bett zu. Es sah so aus, als würde sie den Boden überhaupt nicht berühren. Zudem bewegte sie sich völlig lautlos.
Suko konnte nicht anders, er musste ihr einfach folgen, weil ihn der Liebreiz dieser Gestalt voll und ganz überwältigt hatte.
Dass er in Shao eine Partnerin hatte, daran dachte er nicht mehr.
Die junge Inderin, dazu noch eine Untote, hatte ihn voll in ihren Bann gezogen.
Mari drehte sich so, dass sie auf das Bett schauen konnte. Und sie behielt die
Weitere Kostenlose Bücher