041 - Um Mitternacht im Leichenhaus
lang reglos vor dem Spiegel und betrachtete sich, ohne sich
tatsächlich wahrzunehmen.
Dann kleidete sie sich aus, stieg unter die Dusche, streckte sich wenig
später auf der Couch aus, griff nach ihrem Rollenbuch und vertiefte sich in den
Text. Es war gut, dass sich auch Karen Olander entschlossen hatte, für eine oder zwei Stunden zu ruhen. Außer Judy und der
Witwe befand sich zu dieser späten Nachmittagsstunde niemand mehr im Haus. Das
Mädchen hatte bis um 18 Uhr Ausgang.
Das Telefon läutete.
Als sich Judy meldete, sagte eine monotone Stimme: »Ihre Stunden sind
gezählt, Mrs. Bartmore ! Um
Mitternacht werden Sie im Leichenhaus sein !« Sie
merkte nicht, wie ihr der Hörer entglitt und auf die Gabel fiel. Unruhig ging
sie in ihrem Zimmer auf und ab. Sie überlegte, ob sie in das Gästezimmer gehen
sollte, in dem Karen untergebracht war. Doch sie verwarf den Gedanken schnell
wieder.
Eine telefonische Morddrohung!
Wer konnte ein Interesse daran haben, sie umzubringen? Was steckte
dahinter? Ein makaberer Scherz? Der Anruf eines
Wahnsinnigen?
Lange starrte sie das Telefon an und fragte sich, ob es wirklich geläutet
hatte und wusste selbst nicht mehr, was sie noch glauben sollte. Der Tag hatte
schon merkwürdig angefangen. Sie erinnerte sich an ihre absurden Gedanken
während der Beisetzung; dass Henry Olander nicht im Sarg lag, sondern jeden Augenblick hinter
einer der Trauerweiden auftauchte, um sich dem Trauerzug anzuschließen.
Mit einem Mal fror sie wieder. Trotzdem ging sie ans Fenster, öffnete es
weit, und der kühle Wind vom Meer her streifte ihr erhitztes Gesicht.
Ein Geräusch im Haus ließ sie zusammenfahren. Die Tür des Haupteinganges
wurde zugeschlagen. Schritte folgten.
Ernest war gekommen!
Judy ordnete die Haare und eilte zur Tür, überlegte es sich aber anders.
Ernest durfte nichts merken. Daher eilte sie zur Couch zurück, legte sich
wieder hin und griff nach dem Skript.
Wenig später betrat Ernest Bartmore das Zimmer
seiner Frau und begrüßte sie zärtlich. »Was ist, Darling ?« ,
wollte er wissen, und er klang besorgt. »Fühlst du dich nicht wohl? Du siehst
abgespannt aus .«
Sie versuchte zu lächeln. Ihrem Gatten gegenüber war sie immer etwas
hilflos. »Es ist nichts«, sagte sie matt. »Der Tag war sehr anstrengend .«
Er musterte sie eingehend. »Du solltest nicht mehr so viel tun, Darling«,
sagte er leise, während er sie küsste. »Ruhe dich ein wenig aus !« Er nahm ihr das Skript aus der Hand.
Sie schmiegte sich fest an ihren Mann. In seiner Nähe fühlte sie sich stets
sicher und geborgen. Ernest strahlte eine Selbstsicherheit und einen Zauber
aus, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Sie war glücklich an seiner Seite und froh, ihn als Mann zu haben. Aus dem
Zentrum der Filmindustrie hatte sie ihn entführt und seinem Leben neue Impulse
gegeben.
»Ich bin sehr nervös, Ernest«, sagte sie unvermittelt.
Der Regisseur nickte. »Ich weiß, Darling. Vor jeder Premiere ist es das
gleiche. Ich bin überzeugt, dass in drei Tagen alles vorbei ist .«
»In vier Tagen.«
»Richtig! Die Proben, die morgen Abend beginnen, sollten dich eigentlich
weniger beschäftigen. Mir gefällt deine Interpretation. Du stellst das Mädchen
Laura glaubwürdig dar .«
»Es gibt da noch eine andere Rolle«, warf Judy ein. »Du weißt, dass George Tomlen für die
Einweihung des neuen Theaters in Salisbury extra ein Stück geschrieben hat. Die
drei Rollen verteilen sich ziemlich gleichmäßig auf die beiden weiblichen und
den männlichen Darsteller. Tomlen will die Liebe
eines Mannes zu zwei Schwestern zeigen, die eine schon älter, erfahren, reif,
die andere bedeutend jünger, leichtlebig, mannstoll. Ich muss sagen, dass mir
die Rolle der älteren Schwester zu schaffen macht .«
»Dein Regisseur ist schließlich auch noch da .« Judy lächelte leicht. »Hinzu kommt, dass ich meine Partnerin noch nicht kenne,
Miriam Brent – hast du schon einmal von ihr gehört ?«
Ernest Bartmore dachte einen Augenblick nach.
»Ja, ich hatte schon mit ihr zu tun. In einigen kleinen Rollen spielte sie
bereits in der Western-Serie Wildes Land .
Ein sympathisches junges Mädchen. Ich glaube, dass ihr euch verstehen werdet.
Und was wichtig ist: Sie hat Talent. Ich bin überzeugt, dass sie eines Tages zu
den großen Stars zählen wird .«
Ernest blieb noch einige Minuten im Zimmer seiner Frau, dann verabschiedete
er sich. Judy erfuhr, dass das Gespräch mit dem Produzenten nicht so verlaufen
war, wie er
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