0412 - Ein Grab aus der Vergangenheit
Flut mit langen Schaumstreifen auf der Oberfläche und hin und wieder aufblitzenden Reflexen. Fahrzeuge überholten sie oder kamen ihr entgegen. Die Scheinwerfer der auf sie zufahrenden Autos wurden zu kleinen, manchmal explodierenden Sonnen, wenn die Wölfin ihren Kopf hob und in sie hineinschaute.
Sie wurde von den Fahrern nicht immer gesehen. Und wenn, dann nur als huschender Schatten. Die meisten Zeugen hielten Nadine für einen entlaufenen Hund.
So jagte sie weiter. Nass war ihr Fell.
Mit sicherem Instinkt fand sie ihr Ziel, denn nur dort konnte sie etwas erreichen.
Einen Vorteil hatte sie den Autofahrern gegenüber. Sie brauchte sich nicht an Straßen oder Wege zu halten. Wenn es eben möglich war, konnte sie die Grünflächen der Parks durchqueren und so gewaltige Stücke abkürzen.
Das tat sie auch.
Schattenhaft huschte sie in die düsteren Parks. Katzen, die frei herumliefen und unter Büschen hockten, nahmen fluchtartig Reißaus, als sie den großen Wolf sahen.
Nadine kümmerte sich nicht darum. Außerdem hätte sie die Katzen nie angegriffen, denn in ihrem Körper wohnte die Seele eines Menschen, und dieser Mensch, die Schauspielerin, war in ihrem Leben eine friedliche Person gewesen.
Nadine konnte man als einen geistigen Zwitter bezeichnen.
Äußerlich war sie ein Tier und besaß den Instinkt und die Sensibilität eines Tieres. So nahm sie vieles wahr, was den Menschen verborgen blieb.
Da gab es zahlreiche Personen, zu denen sie sich hingezogen fühlte. Und einer dieser Menschen hieß John Sinclair.
Als Nadine Berger hatte sie ihn einmal geliebt. Dann war der grausame Schlag des Schicksals gekommen, und für Nadine endete ihr menschliches Leben mit dem Tod. Gleichzeitig begann ein neues.
Das der Wölfin, mit dem sie sich zuerst nicht hatte abfinden wollen, bis es den Conollys gelungen war, sie bei sich aufzunehmen, wo sie über die Familie und besonders über den kleinen Johnny wachte.
Jetzt hatte sie die Conollys im Stich gelassen. Es tat ihr Leid, doch sie hatte keine andere Chance gesehen, das Blatt noch zu ihren Gunsten zu wenden.
Und so jagte sie weiter.
Erfüllt von einer Unruhe und einem wie Feuer brennenden Drang, der ihr die nötige Kraft gab.
Kraft und Stärke brauchte sie, um ihr Ziel erreichen zu können.
Gefährlich wurde es für sie, wenn sie Straßen überqueren musste, die allesamt befahren waren.
Oft konnte sie schlecht abschätzen, wie weit die einzelnen Fahrzeuge noch von ihr entfernt waren. Manchmal waren sie schneller heran, als sie dachte, aber es gelang ihr immer wieder, den gefährlichen Blechkarossen zu entgehen.
So näherte sie sich der City, wo das von ihr anvisierte Ziel lag.
Es ging um John Sinclair. Sie hatte gespürt, in welch einer Gefahr er steckte, denn gerade Nadine als Wölfin wusste von der Gefahr, die Werwölfe bringen konnten.
Und sie kannte auch die Person, die im Hintergrund lauerte und noch nicht zurückkehren konnte.
Lupina!
Ihr Einfluss war da. Nadine reagierte auf ihn so wie sensible Menschen auf die Strahlung des Mondes. Sie nahm den Einfluss auf, sie dachte darüber nach, obwohl sie ein Tier war, und sie kam zu dem Ergebnis, dass man etwas tun musste.
London lag im weihnachtlichen Glanz. Die Wölfin zeigte sich irritiert von den hohen Tannenbäumen, die an vielen Plätzen standen und ihre Strahlenkränze ausbreiteten. Funkelnde Lichter, vorweihnachtlicher Glanz inmitten einer geschäftstüchtigen Hektik.
Einmal hatte sie Pech. Eine Horde Jugendlicher entdeckte sie. Die Leute hielten sie für einen Hund, der gejagt werden konnte. Sie saßen auf Motorrädern und rasten hinter der Wölfin her. Mit viel Geschick und Schnelligkeit gelang es Nadine, die Burschen abzuhängen.
Noch war Scotland Yard weit, und sie war ausgepumpt. Müde und mit hängendem Kopf schlich sie an den Fassaden der Häuser entlang, wurde zweimal von Bobbys entdeckt und verschwand blitzschnell, bevor die Polizisten Jagd auf sie machen konnten.
Das Ziel der Wölfin lag in der Victoria Street und trug einen weltberühmten Namen.
Scotland Yard!
Genau dort wollte sie hin. Ein Wahnsinn, eine Verrücktheit, aber sie sah darin die einzige Chance, etwas zu erreichen.
Auch am Abend herrschte auf der Victoria Street ziemlich viel Verkehr. Die einzelnen Scheinwerferpaare waren für die Wölfin nicht mehr zu unterscheiden. Heranrollende Wagen bildeten breite Lichterketten, die gegen ihr Gesicht strahlten.
Die Wölfin senkte den Kopf. Die Zunge schlug aus ihrem Mund,
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