0412 - Ein Grab aus der Vergangenheit
mein Gesicht. Die Berge sah ich als hohe Schatten in der Ferne. Ich erkannte das dunkelgraue Band der Loire und davor den weitläufigen Schlosspark.
Okay, wir standen im Freien. Gress lag am Boden und erhob sich stöhnend. Er war auf eine Galerie gefallen, die auf dem Dach des Schlosses verlief und einzelne aufgesetzte Türme miteinander verband.
»Wenn man mit dem Kopf durch die Wand will, holt man sich leicht Beulen«, sagte Gress und streckte mir seinen Arm entgegen.
Ich half ihm hoch. Er stemmte sein Gesicht gegen den Wind und sah sich um. »Ist ja schon gewaltig«, gab er zu. »Nur würde mir der Ausblick tagsüber besser gefallen.« Er blickte mich fragend an.
»Willst du an der Mauer entlang nach unten klettern?«
»Nur im Notfall.«
»Und den haben wir nicht?«
»Nein.«
»Optimist.« Ich deutete den Galeriegang entlang. Der nächste spitze Turm befand sich vielleicht dreißig Meter entfernt. Ich vermutete, dass dieser Weg sämtliche Türme miteinander verband, die auf dem Dach des Schlosses standen und die Breitseite des Gebäudes einnahmen.
Natürlich war die Galerie durch eine Mauer abgesichert worden.
Nur hüfthoch, aber immerhin gab sie leichten Schutz. Gress beugte sich über die Mauer.
»Nur das Dach ist da!« meldete er.
Ich schaute ebenfalls nach. Schräg lief es am unteren Ende der Brüstung weg. Ich änderte meine Blickrichtung und blickte in den Park. Er wirkte wie eine gewaltige, dunkle Insel, die nur an wenigen Stellen durch Laternen erleuchtet war.
Mancher Lichtschimmer glitt auch über die Äste eines Baumes und gab ihnen einen silbrigen Glanz.
Auf mich wirkte der Park wie ein geheimnisvolles Refugium, das unter seinem Schutz das Unheil verbarg. Gress deutete schräg in die Höhe. Seine Fingerspitze wies dabei auf den Mond. »Schau hin, Sinclair, der ist fast voll. Ideal für Werwölfe und Vampire.«
»Lass die Blutsauger aus dem Spiel. Die ersten reichen mir schon.«
»Hast du schon mal gegen Vampire gekämpft?«
»Sicher.«
Er räusperte sich, wollte noch etwas sagen und verschluckte das Wort. Ebenso wie ich war er zusammengezuckt, denn mit dem grellen Fanfarenstoß hatten wir nicht gerechnet.
Diesmal hallte er nicht durch die Räume des Schlosses, sondern wehte wie ein unheilvoller Gruß über die blattlosen Bäume des Schlossparks hinweg, bevor er irgendwo über dem Fluss verhallte.
Danach war es still.
Gress hatte trotzdem eine Gänsehaut bekommen. Als er mich anfasste, zitterte seine Hand. »Verflucht, John, ich habedas Gefühl, als wäre hier zur zweiten Attacke geblasen worden.«
»Kann schon sein.«
»Aber wo?« Er schlug mit der flachen Hand auf die Brüstung.
»Verdammt, wo kann sich der Typ versteckt halten? Hast du ihn nicht gesehen?«
»Nein, vielleicht ist er wieder unsichtbar geworden.«
»Das hätte mir noch gefehlt.« Gress trat vorsichtig von mir weg und sah sich ängstlich um.
Auch mir gefiel der Platz auf der Brüstung nicht besonders. Wir waren ohne Deckung. Wer im Hinterhalt lag, konnte uns töten.
Es wurde Zeit, dass wir uns auf den Weg zum zweiten Turm machten. Der Meinung war auch Gress.
»Du kannst sagen, was du willst, John. Ich werde jetzt losziehen. Sobald ich im Park bin, geht es mir besser. Die luftige Höhe hier habe ich noch nie gemocht.«
Dafür hatte ich Verständnis. Er ging. Ich schaute noch einmal in den Garten und dachte dabei an die Fanfare des Herolds. Der Bote hieß Maurice de Medoque und gehörte zu den Ahnen der jetzigen Schlossherrin. Vielleicht war er der erste Werwolf in der langen Reihe der Familie gewesen. Durch seinen Fanfarenstoß war es ihm gelungen, Lupina als Projektion aus dem Zwischenreich zu holen, damit sie Manon Medoque die Kraft hatte geben können.
Der große Schlosspark lag ruhig da. Schatten konnte ich zwar erkennen, aber sie bewegten sich nicht. Still lagen sie inselartig innerhalb des gewaltigen Areals.
Ich drehte mich um – und hörte den Schrei!
Gänsehaut jagte über meinen Rücken. Wer so schrie, so dumpf und erstickt, war in Lebensgefahr.
Ich flirrte herum – und sah das Schreckliche.
Gerald Gress taumelte mir rückwärts gehend entgegen. In seiner Brust steckte die Lanze, die einmal dem Herold des Satans gehört hatte…
***
Es war ein furchtbares Bild.
Als Akt letzter Verzweiflung hatte der Reporter seine Hände um den Schaft gekrallt, ohne allerdings etwas bewirken zu können.
Eine eiskalte Faust schien mein Herz zu umklammern und es immer stärker zusammenzudrücken. Mir wurde
Weitere Kostenlose Bücher