0412 - Wo Canaro wütet
wenig zu tun. Sie war ein Opfer des Hexers, und sie würde ihm nichts Neues mehr berichten können. Er klopfte an die Badezimmertür. »Sind Sie in Ordnung, Miß?«
Von drinnen kam nur hilfloses Schluchzen.
»Es ist alles vorbei«, sagte er. »Sie brauchen sich nicht einzuschließen. Sie sind nicht in Gefahr. Kann ich Ihnen helfen?«
Das Mädchen antwortete nicht.
»Soll ich Ihnen jemanden schicken oder benachrichtigen?«
Wieder keine Antwort.
Es kribbelte ihm in den Fingern. »Ich komme in einer halben Stunde wieder«, sagte er. »Ich muß nur dringend etwas erledigen. Ich komme wieder und helfe Ihnen. Haben Sie verstanden?«
»Mhm«, kam es von drinnen.
Er nahm es als Zustimmung. Langdon Gray verließ das Apartment. Immer noch standen neugierige Nachbarn auf dem Hausflur und unterhielten sich. Gray bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Lift. Eine lockenwicklerbewaffnete Zweizentner-Lady versuchte Gray aufzuhalten. »Was ist denn eigentlich da passiert? Sind Sie wirklich vom FBI?«
Der Lift kam.
»Es geht Sie nichts an, Ma’am«, sagte Gray kühl und stieg in die Kabine. Zischend schloß sich die Sicherheitstür. Die Kabine glitt abwärts.
Er dachte an die Schwarzhaarige. Hoffentlich drehte sie nicht durch. Sie hatte wahrscheinlich gar nicht alles bewußt mitbekommen. Er würde sich um sie kümmern müssen. Später. Erst einmal mußte er wissen, ob er den verdammten Hexer tatsächlich erwischt hatte. Er hatte sich das Zimmerfenster gemerkt; er würde das Apartment im gegenüberliegenden Haus finden. Immerhin besaß er ein hervorragendes Orientierungsvermögen.
Als er die Straße überquerte, hörte er Sirenen. Die City Police von New York rückte mit zwei Streifenwagen an. Irgend jemand mußte sie nach den Schüssen alarmiert haben. Langdon Gray verzog das Gesicht. Es war nicht anzunehmen, daß jemand ihn beobachtete, wie er das andere Haus betrat. Er war relativ sicher.
Niemand konnte ihn belangen.
Er hatte geschossen. Das hätte er rechtfertigen müssen. Er hatte einen falschen Dienstausweis benutzt. Das war strafbar.
Was noch?
Er hatte auf einen Hexer geschossen, der ein halbes Dutzend Menschen auf dem Gewissen hatte – wenigstens. Wahrscheinlich noch viel mehr, von denen Gray nichts wußte. Er war nicht über alles informiert, natürlich nicht. Vielleicht lebte dieser verdammte Teufel schon seit vielen Jahrhunderten. Dann war das meiste längst nicht mehr nachprüfbar.
Wer würde schon glauben, daß jemand durch die Luft gehen konnte? Und unten auf der Straße lag kein abgestürzter Selbstmörder.
In der Hinsicht konnten sie Gray also nicht belangen, was immer auch geschehen würde. Besser war es natürlich, wenn niemand ihn faßte.
Blieb nur die Sache mit der gegenüberliegenden Wohnung. Die mußte er klären. Schon allein, um zu wissen, ob er Canaro wirklich erwischt hatte. So ganz glaubte er noch nicht daran. Mehrmals hatte er schon geglaubt, Canaro gepackt zu haben, und immer wieder war ihm der Hexer entkommen. Diesmal war es hoffentlich das letzte Mal. Aber ein leichter Zweifel blieb.
Er mußte sichergehen.
Alles andere war egal.
Im anderen Hochhaus trug ihn der Lift zum dreizehnten Stock hinauf. Er zählte die Apartments ab. Schließlich war er sicher, vor der richtigen Tür zu stehen. Er vergrub den Klingelknopf unter seinem Daumen.
Es dauerte eine Weile, bis sich drinnen jemand rührte. Gray atmete auf. Er hatte schon befürchtet, die Wohnung sei leer, und er müsse die Tür mit sanfter Gewalt öffnen, um sich über Canaros Schicksal Gewißheit zu verschaffen.
Die Smith & Wesson steckte im Schulterholster. Grays Hand war erhoben, in der Nähe der Waffe – falls der Falsche öffnen sollte. Gray war bereit, die Waffe zu ziehen und dem Hexer eine Kugel aus nächster Nähe in den Körper zu jagen, falls er noch lebte und jetzt versuchte, Gray hypnotisch zu überrumpeln.
Aber eigentlich ging Canaro immer andere, kompliziertere Wege.
Die Tür wurde fünf Zentimeter weit geöffnet, dann sperrte die Sicherheitskette. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte eine Mädchenstimme.
»Gray, Bundesbehörde«, sagte er.
»Gott sei Dank«, vernahm er, dann glitt die Tür ins Schloß, um sofort wieder ganz geöffnet zu werden.
Er konnte an dem Mädchen vorbei in ein Zimmer sehen; ein kalter Luftzug kam vom zersplitterten Fenster her.
Und vor dem Fenster lag Canaro.
***
Er erkannte den Hexer sofort, obgleich er nicht mehr so aussah, wie er ihn in Erinnerung hatte. Canaro wirkte
Weitere Kostenlose Bücher