0414 - Ein Goldfisch unter Großstadt-Haien
warum ich gestern abend nicht gekommen bin. Es sind schreckliche Dinge passiert. Vater ist tot. Ermordet. Dieser Kramer und ein Komplice hatten mich entführt. Aber ich konnte schon nach Stunden entkommen. Hier in der Wohnung ist der Komplice anschließend von einem Unbekannten erschossen worden. Es hat von Polizisten nur so gewimmelt, und heute nacht«, die Stimme der Frau wurde noch leiser, »ist Joe verschwunden.« Die Frau holte tief Luft und fügte dann, leise wie ein Windhauch, hinzu: »Ich hoffe, er kommt nie wieder.«
In der Leitung blieb es sekundenlang still. Dann stieß der mit Bill Angeredete ein durchdringendes Zischen aus. »Sag mal, träume ich? Oder hast du mir eben…«
»Es stimmt alles, was ich dir gesagt habe, Bill. Ich werde es dir in allen Einzelheiten erzählen, wenn ich nur zu dir könnte.«
»Ich warte auf dich. Komm so schnell wie…«
»Es geht nicht. Ich werde bewacht.« Der Mann schwieg verblüfft. Und sein Schweigen war wie ein dickes Fragezeichen hinter einer erstaunten Frage.
»Ein Polizist sitzt in der Diele. Deswegen muß ich auch so leise sprechen.«
»Warum? Hast du den Cops von uns was erzählt?«
»Natürlich nicht. Aber sie hielten es für richtig, mir jemanden als Schutz in die Wohnung zu setzen. Sie glauben, daß Kramer oder Haskin noch mal zurückkommen.«
»Wann können wir uns sehen?«
Die Frau strich sich mit zwei Fingern über die Lider, die wie die Flügel eines Schmetterlings flatterten. »Bald, Bill, sehr bald. Ich halte es nicht aus, wenn ich dich nicht bald wiedersehe. Es ist mir unerträglich mit Joe… Aber jetzt ist er ja weg. Und ich weiß, daß er nie wiederkommt. Dann steht uns nichts mehr im Wege, Bill. Wir können endlich…«
»Woher weißt du, daß er nicht zurückkommt?«
»Ich fühle es, Bill. Eine Frau fühlt so etwas ganz deutlich.« May schluckte. Ihre Kehle war trocken.
Wieder schwieg der Mann am anderen Ende der Leitung. Aber diesmal war das Schweigen nicht wie eine unausgesprochene Frage, sondern wie eine Wand, die plötzlich zwischen zwei Menschen emporwächst, wie eine Wand des Mißtrauens.
»Ich hoffe«, sagte der Mann dann langsam, »daß dich dein Gefühl nicht trügt'« Er machte eine Pause. »Glaubst du, daß dein Mann in den Verbrechen mit drinhängt?« , »Ich weiß es nicht, Bill. Es ist mir auch egal. Hauptsache, er ist weg. Denk nicht an ihn! Lösch ihn aus deinem Gedächtnis, als hätte es ihn nie gegeben. Ich tue das gleiche. Es war von Anfang an ein Irrtum, und aus dem Irrtum ist bald eine Qual geworden. Joe hat es gespürt — wie ich. Wahrscheinlich hat er jetzt die Konsequenzen gezogen und sich für immer davongemacht.«
»Jetzt? Gerade jetzt?« Es klang ungläubig. »Durch dieses Verhalten macht er sich verdächtig. Die Polizei wird ihn suchen.«
»Sollen sie ihn suchen. Hauptsache, er kommt nicht zu mir zurück.« Die Frau räusperte sich leise. »Ich will versuchen, hier irgendwie ’rauszukommen, Bill. Wir müssen uns sehen.«
»Wie willst du das anstellen? Sobald du die Wohnung verläßt, ist dir dein Bewacher auf den Fersen.«
»Du mußt mir helfen, Bill.« Die Frau dachte einen Moment nach. »Ich habe schon eine Idee. Komm einfach her. Du klingelst. Der Polizist wird dir öffnen. Du verlangst mich, bist ein Bekannter von mir, der gerade zufällig in New York ist. Sagen wir, du kommst aus Chicago.«
»Hm. Das bedeutet, daß wir unser Geheimnis lüften.«
»Warum auch nicht? Vater ist tot. Joe ist verschwunden. Vor wem sollte ich sonst noch Geheimnisse haben?«
»May«, sagte der Mann eindringlich. »Denk doch mal logisch. Dein Mann ist verschwunden. Ich tauche auf. Sobald die Polizei wittert, daß wir uns nicht gleichgültig sind, schöpft sie Verdacht. Vielleicht denkt man sogar, daß wir beide — oder einer von uns — deinen Mann beseitigt haben.«
Die Frau schwieg lange. Erst als sie in der Diele ein leises Geräusch vernahm, sagte sie hastig. »Ich muß Schluß machen. Mein Bewacher regt sich. Bitte, komm! Ich brauche dich. Komm bitte bald! Ich will nicht hoffen, daß du feige bist und dich vor einer so absurden Verdächtigung fürchtest.« May Hunter legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Mit leisem Klicken landete der Hörer auf der Gabel.
May ging zur Tür. In dem Zimmer herrschte jetzt eine fast unerträgliche Schwüle. Rex Bowl, der Sergeant, hatte einige Knöpfe seiner Uniformjacke aufgeknöpft. Sein rotes Gesicht glänzte, und am Haaransatz glitzerten Schweißtropfen.
»Unerträglich —
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