0416 - Im Namen der Hölle
nicht schlimm.
Sollte sie das Wasser trinken?
Es hatte sie stets erfrischt, denn es musste von einer Quelle stammen, die irgendwo auf der Insel entsprang.
Die Lukenklappe war nach innen gefallen. Auf ihr stand das kleine Tongefäß.
Jane ging hin, streckte den Arm aus und umklammerte den Becher. Sie schaute dabei auf das Augenpaar hinter den Sehschlitzen der schwarzen Kapuze. Es war ein taxierender Blick ohne Mitleid, unter dem Jane Collins regelrecht erschauderte.
Hastig zog sie den Becher zu sich heran. Das Wasser geriet in Bewegung, es schwappte über, und Jane trank. Der letzte Schluck in ihrem Leben?
Sie nahm sich Zeit, und der Henker hatte nichts dagegen. Sein Kopf malte sich hinter der offenen Luke ab, er beobachtete die Trinkende scharf, wie Jane langsam schluckte.
Irgendwann war der Becher leer. Jane ging vor und stellte ihn wieder an seinen Platz. So war es immer, es glich schon einem Ritual, und der Henker nickte.
»Es war dein letzter Schluck«, sagte er. »Dein allerletzter. Wenn wir demnächst kommen, holen wir dich ab. Zwei Henker, die dich packen werden. Denk an früher, da hast auch du dich unter der Kapuze eines Henkers verborgen gehabt. Alles kommt wieder, alles.«
Mit einem lauten Geräusch fiel die Klappe wieder vor die Öffnung.
Jane war allein. Sie lauschte den schwächer werdenden Schritten nach, bis sie nicht mehr zu hören waren, drehte sich dann um und dachte über die letzten Worte nach.
Ja, es stimmte. Auch sie war in ihrem Leben als Hexe schon ein Henker gewesen. Sie hatte ihr Gesicht unter einer roten Kapuze verborgen gehabt und schlimme Taten begangen, die sie im Nachhinein sehr bereute. Nun kam alles wieder auf sie zurück. Unter der Axt des Henkers würde sie ihr Leben aushauchen.
Wiederum machte Jane Collins das Gleiche durch wie die Todeskandidaten, die früher hier eingesessen hatten. Sie konnte sich vorstellen, dass sie in einer Todeszelle steckte, nur würde man sie nicht durch Gas umbringen, sondern köpfen.
Nach alter Methode, wie es die Henker des Mittelalters getan hatten. Es war furchtbar.
Und sie spürte den Druck. Er wurde immer stärker, presste ihren Magen zusammen, sodass sie Mühe hatte, überhaupt Luft zu bekommen. Wenn sie tief einatmete, spürte sie den Druck, der ihre Magenwände umschloss. Es war der Beginn der Todesangst.
Sie lauschte nach innen, hörte ihren Herzschlag und wusste, dass mit jedem Schlag dieses künstlichen Organs wieder eine Sekunde ihrer Lebensuhr abgelaufen war.
Ein furchtbares Gefühl, der Beginn einer schrecklichen Todesangst, die immer weiter steigen würde, um sie schließlich in den Wahnsinn zu treiben.
Jane konnte sich nicht vorstellen, dass sie die Kraft fand, allein zur Stätte der Hinrichtung zu gehen. Dorthin würde man sie wohl schleifen oder tragen müssen.
Die Sonne wanderte weiter. Längst konnte sie den Ball nicht mehr sehen. Sie hörte aber das ewige Rauschen der Brandung. In der Nacht nahm es noch zu, da hatte sie immer das Gefühl gehabt, Botschaften zu empfangen, die ihre Furcht jedoch nicht hatten lindern können.
Der Nachmittag brach an.
Jane erinnerte sich an die Worte, die man ihr gesagt hatte. Wenn der Mond am Himmel stand, würde man sie holen und zur Richtstätte führen. Sie trat an das schmale Zellenfenster, streckte die Arme aus und umklammerte zwei Stäbe im unteren Drittel. Sie spürte den Rost auf den Handflächen, störte sich nicht daran und zog sich in die Höhe, weil sie sehen wollte, ob der Mond schon aufgegangen war.
Obwohl sich Jane einen guten Blickwinkel verschafft hatte, entdeckte sie die runde Scheibe nicht. Sie sah nur die grauen Wolken, diesen bedeckten Himmel, der eine gewisse Trauer ausstrahlte, als wollte er wegen Janes Schicksal anfangen zu weinen.
Sie ließ sich wieder zurückfallen. Fast hätte sie den Halt verloren, so schwach fühlte sie sich in den Knien, auch eine Folge der immer stärker werdenden Angst.
Sie erlebte die ersten Schweißausbrüche, hatte das Gefühl zu dampfen und konnte ihren eigenen Körpergeruch nicht mehr riechen. Schmutzig, verklebt und verdreckt, so fühlte sie sich. Sie war ein Mensch, der diese Bezeichnung nicht mehr verdiente. Eine Stufe war sie tiefer gerutscht und näherte sich dem Zustand des Tieres.
Irgendwann würde sie auch ihre Gedanken ausschalten und sich tatsächlich so benehmen wie ein Tier.
Die Zeit war unerbittlich.
Sekunden wurden zu Minuten, Minuten wiederum zu Stunden, und das Räderwerk lief weiter.
Der Himmel trübte
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