0421 - Ein Gangster will New York beherrschen
Frage. Wem sollte ich glauben: den Tatsachen oder meinem Gefühl?
Die Antwort konnte kaum zweifelhaft sein.
***
Das Telefon läutete schrill und ausdauernd. Ich entfernte mühsam die Bleigewichte von meinen Augenlidern und sah nach der Uhr. 6 Uhr morgens. Erst vor vier Stunden war ich schlafen gegangen. Wer mochte das sein?
Ich tastete nach dem Hörer.
»Hallo«, sagte ich schlaftrunken.
»Jerry, sind Sie es?« Eine weibliche Stimme, voll Angst und Zweifel. Mit einem Schlag war ich hellwach.
»Laurie!«
»Ja, ich bin es. Entschuldigen Sie die Störung um diese Zeit, aber ich muss Sie dringend sprechen!«
»Wo stecken Sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich werde unter Druck gesetzt. Ich bin nicht frei.«
»Die Polizei sucht Sie!«
»Ich weiß, aber vor der Polizei habe ich keine Angst. Angst habe ich vor den Gangstern. Sie schrecken vor nichts zurück. Oh, Jerry, ich muss Sie sprechen. Aber die Bande darf nichts davon merken, sonst bringt sie mich um.«
»Wo können wir uns treffen?«
»Ich muss sehen, dass ich hier unbemerkt wegkomme. Können Sie in einer halben Stunde unten am Fluss sein, Vickers Point?«
»Da, wo die Ausflugsboote abfahren?«
»Ja. Nehmen Sie das erste Boot der Star Line. Um diese frühe Stunde wird kaum jemand an Bord sein. Ich werde unterwegs zusteigen. Dort können wir uns unterhalten, ohne dass wir belauscht werden.«
»Laurie«, sagte ich, »warum stellen Sie sich nicht der Polizei?«
Ihre Stimme klang gehetzt.
»Ich kann nicht. Das müssen Sie mir glauben!«
»Warum wollen Sie mich dann sprechen?«
»Ich muss, glauben Sie mir doch. Sie sind der einzige Mensch, der mir helfen kann!«
Die Verzweiflung war echt. Für diese Töne bilde ich mir ein, das absolute Gehör zu haben.
Ich überlegte. Es konnte eine Falle sein. Es war aber auch möglich, dass Laurie gezwungen war, für die Gangster zu arbeiten und dass sie sich davon lösen wollte. Den Ausschlag gab schließlich die Erwägung, dass die Bande eine Falle wohl anders aufgestellt hätte. Die Star Line war eine große Reederei, die an allen Städten der Ostküste Ausflugsdampfer und Touristenboote laufen hatte. Für eine Falle gab es wohl kaum einen ungeeigneteren Ort.
»Gut«, sagte ich, »ich werde da sein. Aber…«
»Was aber?«
»Wenn Sie ein doppeltes Spiel treiben…«
»Jerry, ich schwöre Ihnen, dass ich Sie nicht hereinlege.«
Es klang echt.
»Okay«, sagte ich, »in einer Stunde dann!«
Ich erhob mich und sah durchs Fenster. Draußen war ein unfreundlicher Morgen. Regenschauer peitschten den Hudson River. Ein großer Dampfer wurde von Schlepper zu seinem Liegeplatz im Norden gebracht.
Eine Dreiviertelstunde später stand ich am Bootssteg in Vickers Point. Den Mantelkragen hochgeschlagen, studierte ich die Morgenzeitung. Sie berichtete in großer Aufmachung über die Befreiung der fünf Verbrecher und über den angeblichen Bankraub in der Tube Street. Auch ein paar Fotos waren dabei; von Pressefotografen aufgenommen, als die Männer im Hof des FBI-Gebäudes den Transportwagen bestiegen. Ich blätterte weiter, überflog den Bericht.
Halt, da war etwas. »WER IST ACCATONE?«, stand da in großen Lettern.
Wie gerüchtweise verlautet, jagt die Polizei in Zusammenarbeit mit dem FBI einen geheimnisvollen Verbrecher, der unter dem Namen Accatone einen gefürchteten Ruf in der Unterwelt hat …
Ich stieß einen Pfiff aus. Hewey Long hatte etwas zu gut gearbeitet. Aber mir war natürlich klar, dass die Zeitungen auch ihre V-Leute in der Unterwelt hatten. Wenn man da Gerüchte ausstreute, musste man auch in Kauf nehmen, dass sie in die Zeitungen gerieten.
Da war auch ein Bild von Hewey Long, dem gefürchteten Verbrecherjäger, dem unermüdlichen Vorkämpfer für Recht und Ordnung. Der Attorney konnte zufrieden sein; wenn der Fall gut ausging, hatte er die Presse, die er für die Wahl brauchte.
Aus dem Regenschleier, der über dem Fluss lag, löste sich das Touristenboot und tuckerte langsam heran. Die bunten Markisen hingen traurig in der Nässe über den Gestellen. Es waren keine Passagiere an Bord.
»Hübsches Wetter haben Sie sich ausgesucht«, sagte der Mann am Ticketschalter.
»Ich mag den Regen ganz gern«, grinste ich, »ewig Sonne ist ja langweilig.«
Das Boot stoppte, die Planke wurde ausgebracht, ich sprang hinüber, das Gitter ratschte hinter mir zu. Die Diesel stampften, als das Boot Fahrt aufnahm. Ich stellte mich am Bug auf und ließ mir die Nässe ins Gesicht spritzen. Vorbei zog, in
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