043 - Der Mann von Marokko
mit sich selbst zu kämpfen, aber plötzlich stand sie auf, ging in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Einige Minuten später kehrte sie mit einem kleinen Ebenholzkasten zurück, den sie auf den Tisch stellte und öffnete.
»Hier ist der Brief - Sie können ihn lesen.«
Ja, es war blaues Papier. Hamon wußte, daß es ein Briefbogen des Critton-Hotels sein mußte - und das war seit vielen Jahren blau.
Er las die etwas kritzelige Schrift.
›Ich gehe heute zu Ralph Hamon. Wir wollen alle Einzelheiten des Kaufs der Aktien festsetzen. Ich bin mir nur noch nicht darüber klar, ob die Mine, die ich sah, tatsächlich Hamons Eigentum ist oder ob es sich um ein anderes gutgehendes Bergwerk handelt, das mit Ralph Hamons Gesellschaft nichts zu tun hat. Dies schreibe ich dir aber nicht, weil ich denke, daß er mich betrügen will.‹
Sie beobachtete ihn dauernd und war bereit, ihm den Brief aus der Hand zu reißen, wenn er den leisesten Versuch machen würde, ihn in die Tasche zu stecken. Aber er gab ihn zurück. Sie legte ihn wieder in den Kasten und schloß den Deckel.
Plötzlich hörten sie ein furchtbares Stöhnen aus dem Nebenraum, und Mrs. Cornford eilte hinüber. Nach einem kleinen Zögern folgte ihr Hamon verwundert.
»Wer ist das?« fragte er und betrachtete neugierig das eingefallene Gesicht des Kranken in den Kissen.
»Es ist der junge Mann, der bei mir wohnt«, sagte sie besorgt. »Ich fürchte, es wird eine schlimme Nacht werden.«
Farringdon stützte sich auf die Ellbogen und versuchte, aus dem Bett zu steigen. Es bedurfte all ihrer Kraft, ihn zurückzuhalten. Hamon unterstützte sie, aber es war selbst für ihn schwer, den Kranken zu bändigen.
»Würden Sie bei ihm bleiben, bis ich den Doktor geholt habe?« bat sie.
Ralph Hamon hatte allerdings keine Lust, hier Krankenwärter zu spielen, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, ihrer Bitte nachzukommen. Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett und beobachtete den armen Menschen, der sich von einer Seite auf die andere warf, sprach, lachte und im Delirium schrie. Aber plötzlich wurde seine Stimme klarer.
»Joan - verheiratet? Ja, ihr Vater ist irgendein Lord«, sagte Ferdie zusammenhanglos. »Das wußte ich nicht -sehen Sie, das fand man an dem Nachmittag heraus - der Butler hörte nicht, wie ich zu Bannockwaite sprach. Wir wurden in der kleinen Kirche im Wald getraut. Ich wollte ja gar nicht heiraten, aber die anderen bestanden darauf. Wir hatten Lose gezogen. Das Ganze war doch nur Bannockwaites Schuld . . .«
Hamon lauschte gespannt. Joan! Das konnte niemand anders als Joan Carston sein. Er beugte sich über den Kranken.
»Wo wurden Sie denn getraut?« Farringdon murmelte etwas Unverständliches. »Wo war es?« fragte Hamon noch einmal scharf. »In der kleinen Kirche im Wald bei Ascot. Es steht im Register.« Hamon kannte den schlechten Ruf, in dem Bannockwaite stand, und den Rest der Geschichte konnte er sich denken. Joan war also verheiratet! Er preßte die Lippen zusammen. Er hörte draußen die Schritte der Frau und des Arztes und trat auf den Gang hinaus. Es war ein günstiger Augenblick, sich zu verabschieden. Er machte eine kurze Verbeugung und ging zum Gasthaus zurück.
Der Doktor blieb anderthalb Stunden bei dem Kranken. Das Fieber stieg.
Als er gegangen war, dachte sie über den seltsamen Besuch Ralph Hamons nach. Warum wollte er den Brief sehen? Schon vor Jahren hatte er sie darum gebeten, aber sie hatte es ihm damals glatt abgeschlagen, da sie fühlte, daß der Besitz dieses Schriftstücks doch noch eine gewisse Anwartschaft auf das verlorene Vermögen bedeutete.
Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie ihm den Brief in die Hände gab. Sie öffnete den Ebenholzkasten noch einmal. Obenauf lag der blaßblaue Brief, aber als sie ihn auseinanderfaltete, hatte sie ein unbeschriebenes Blatt vor sich.
Es war spät geworden. Sollte sie noch zum Herrenhaus hinübergehen und Lord Creith um Hilfe bitten? Sie hatte ihn früher einmal gesehen. Plötzlich dachte sie an James, diesen ruhigen und gefälligen Mann. Sie setzte den Hut auf, zog den Mantel an und eilte nach Wold House.
36
Der Aufenthalt in einem Gasthaus hat gewisse Vorteile, aber auch Nachteile. Für Ralph Hamon lag ein Nachteil hauptsächlich darin, daß man ihn leicht besuchen konnte.
Er saß vor dem offenen Kaminfeuer in seinem Zimmer, da die Nacht kühl war, und rauchte noch eine Zigarre vor dem Schlafengehen. Seine Gedanken waren bei
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