0431 - Kathedrale der Angst
würde.
Allein stand sie ihm hilflos gegenüber. Es würde ihr nicht noch einmal gelingen, ihn zu überraschen. Beim nächstenmal brauchte sie Hilfe.
Begonnen hatte alles mit dem Eintreffen der Fremden. Auch ihnen stand sie skeptisch gegenüber. Sie besaßen eine Ausstrahlung, die ihr überhaupt nicht gefiel, jedoch keine direkte Gefahr dargestellt hatte wie bei diesem Blondhaarigen.
Der schmale Pfad, den sie hochgelaufen war, umrundete eine vorspringende Felswand und führte, nachdem er sich geteilt hatte, in eine kleine Höhle.
Sie war Colettes Versteck. Und hier wartete sie ab, bis die Sonne tiefer sank und hinter den Graten der Berge allmählich verschwand. Noch war es hell, aber die Schatten wuchsen bereits.
Colette verließ die Höhle. Sie war sehr vorsichtig, schaute sich um, sah niemanden, hörte nur aus dem Ort Geräusche, wie das kräftige Hupen eines Autos.
Hier oben war es still. Sie brauchte auch nicht mehr zurück ins Tal, sie konnte auf dieser Höhe weitergehen, um ihr Ziel zu erreichen. Es war die Kathedrale der Angst! Für sie nicht, denn Colette empfand sie als eine zweite Heimat, in der sie sich sehr wohl fühlte. Nicht umsonst hatte sie Gustave gerufen.
Er, den alle für tot hielten, war ihr Beschützer. Und er lebte. Sie kicherte, als sie daran dachte. Ja, Gustave lebte, nur war es kein Leben, wie es die Menschen kannten. Man konnte ihn als einen Geist bezeichnen, möglicherweise als Jenseits-Boten, aber der Kontakt zwischen Colette und ihm bestand. Sogar sehr intensiv! Wenn ihr Vater das gewußt hätte, vielleicht hätte er sie sogar getötet, aber der wußte nichts, gar nichts. Er ahnte nicht einmal etwas…
Colette atmete hastig. Sie war es gewohnt, in den Bergen umherzulaufen, aber normalerweise ließ sie sich mehr Zeit. Heute hetzte sie weiter, aus Angst, ihr Ziel zu verfehlen.
Eine Hügelflanke nahm ihr die Sicht auf den Ort. Auf dem Hang lagen noch im oberen Drittel die Sonnenstrahlen. Sie ließen die braune Erde golden schimmern und verliehen den aus dem Boden wachsenden Steinen einen außergewöhnlichen Glanz.
Wenn sie den Hang passiert hatte, war es nicht mehr weit bis zu der Kathedrale.
Auch im heißen Sommer war es in den engen Schluchten kühl. Der blaue Himmel war höchstens als Streifen zu sehen, aber zwischen den Wänden herrschte ein ewiges Dämmern. Bis auf die Stellen, wo durch Schächte im Gestein Sonnenlicht hereinfiel.
Sie trug noch immer die dunkle Kleidung und die klobigen Turnschuhe, die längst von einer hellgrauen Staubschicht bedeckt waren. Der von ihren Füßen aufgewirbelte Staub begleitete auch ihren weiteren Weg.
Sie hoffte, daß diese verdächtige Wolke nicht gesehen wurde.
Auch der längste Hang nimmt einmal ein Ende. Links lag er, rechts wuchsen bereits die Wände auf sie zu und warfen lange Schatten auf den Weg wie ein finsteres Omen.
Die Enge des Pfades blieb. Manche Menschen bekommen Angstgefühle, wenn sie den düster wirkenden Eingang einer Schlucht sehen. Bei Colette war das nicht der Fall. Sie atmete auf.
»Endlich!« flüsterte sie und tauchte so rasch wie möglich in das kühle Dämmerlicht ein.
Hier blieb sie stehen. Der Haarknoten hatte sich gelöst. Sie strich die Strähnen zurück, preßte ihre erhitzte Stirn gegen das kühle Gestein und versuchte so, zur Ruhe zu kommen.
Überlaut vernahm sie ihren eigenen Herzschlag. Der Atem wollte sich nur allmählich beruhigen, der Kontakt mit dem dunklen Felsgestein tat ihr gut, und sie hatte das Gefühl, als würde dieses Gestein voller Leben stecken.
Ein geheimnisvolles Summen und Flüstern durchzog jede Pore und erreichte auch den Kopf der Frau.
Über ihre Lippen glitt ein Lächeln. Sie hatte ihre Augen geweitet und sog durch die Nase den Atem ein. »Sie rufen mich!« flüsterte sie voller Inbrunst, »Ja, sie rufen mich. Sie sind gleich da, sie warten auf mich. Ich werde euch nicht enttäuschen und dich auch nicht, Gustave Rodin.« Der Name war so etwas wie eine Initialzündung, denn sie zog ihren Kopf hastig wieder zurück und hob die Schultern, als wäre ein kalter Wind über sie hinweggefahren. Dann ging sie weiter. Diesmal nicht so ungestüm. Eher bedächtig und langsam, als wollte sie jeden einzelnen Schritt auskosten.
Sie kannte jede Stelle des Wegs. Die hier liegenden Steine kamen ihr schon vor wie die besten Freunde, und das Lächeln auf ihren Lippen blieb. Wie auch der Glanz in den dunklen Augen. Sie mochte die Kathedrale. Viele fürchteten sich vor ihr, aber die düsteren
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