0438 - Schlangenhand
bei ihnen mitgemacht, Nina.«
Sie trat mit dem Fuß auf. »Verdammt noch mal, ich mußte überleben. Verstehst du das?«
»Das mußte ich auch.«
»Ja und?«
Er grinste scharf. »Ich habe mich keiner Bande angeschlossen, obwohl auch ich überleben mußte. Das ist der Unterschied. Deshalb kann ich dich nicht laufenlassen.«
Sie senkte den Kopf und hob die Schultern. Bei ihr das Zeichen, daß sie aufgegeben hatte.
Obwohl Nina um zwei Jahre älter war als Jorge, mußte sie seine Überlegenheit anerkennen. Sie hatte nie allein entscheiden müssen. El Succo, dem Chef, war diese Aufgabe zugefallen, aber Jorge hatte es gelernt, sich durchzuschlagen. Er war den anderen seines Alters um einige Längen voraus.
»Ich will auch nicht mehr lange warten!« flüsterte er scharf. »Mein Gefühl sagt mir, daß wir das Ziel bald erreicht haben.«
»Welches Ziel?«
»Das weißt du genau - ihn!«
Nina blickte ihn kurz an, bevor sie ihre Antwort formuliert hatte. »Ein Teufel ist er!« schrie sie. »Ein verdammter Teufel!« Sie ballte ihre Hände.
Jorge blieb gelassen. »Na und? Soll er ruhig ein Teufel sein, so wie du das meinst. Mir ist es egal. Ich weiß nur, daß er mir eine gewisse Macht gibt. Die hast du ja schließlich miterlebt, als dein Freund verging. Viele haben versucht, mich auf die miese Art und Weise anzumachen. All die, die es jetzt noch versuchen, sollen sich vorsehen. Und du auch, Nina. Strapaziere meine Geduld nicht übermäßig.«
Sie hatte ihn zwar gehört, doch sie kümmerte sich nicht um ihn. Nina drehte dem jungen Mann den Rücken zu. Die Arme hatte sie auf das Steingeländer der Brücke gelegt.
Er packte sie. Nur widerwillig drehte sie sich um. »Das geht nicht gut, das geht nicht gut!« flüsterte sie. »Ich sage es dir. Du stürzt dich ins Unglück. Man soll die Finger von einem finsteren Zauber lassen. Ich warne dich…«
Jorge zog sie einfach mit sich. Nina redete zwar noch weiter, nur kümmerte er sich nicht um diese Worte. Für ihn war es wichtig, das Ziel zu finden und die Zeiten einzuhalten.
Sie bewegten sich bereits auf dem Hafengelände. Der Geruch des Brackwassers aus der Tejo-Mündung strömte ihnen entgegen. Bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, dieses Zeug trinken zu müssen.
Manchmal kamen ihnen Menschen entgegen. Zumeist Männer, die schon leicht angetrunken waren. Hin und wieder hörten sie aus einer Gaststätte schwermütige Melodien.
Die Stadt war ruhig, ruhiger als sonst. Irgend etwas schien zu lauern.
Vielleicht spürten die Menschen auch, daß sich einiges verändert hatte.
Wenn sie an den toten Armen vorbeigingen, glichen die dort ankernden Schiffe grauen Schatten.
Und grau war auch der Himmel, wenn auch bedeckt mit den hellen Punkten der Sterne.
Obwohl Jorge niemandem etwas gesagt hatte, wußte er genau, wo er hingehen mußte.
Es war ein Lokal in der Altstadt, das auf ihn wartete. Er kannte den Namen nicht, aber er verließ sich auf seinen Führer, das Amulett. Es gab ihm gewisse Befehle und Anordnungen, denen er zu folgen hatte.
Als er stehenblieb, verhielt auch Nina ihre Schritte. »Was ist los?« fragte sie. »Hast du es dir überlegt?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind gleich da.«
»Wo?«
Jorge hob seinen Arm sehr langsam an und streckte den rechten Zeigefinger aus. »Dort gegenüber befindet sich das Lokal. Da wartet man auf uns. Ich spüre es.«
Sie erwiderte nichts. Noch einmal dachte sie an Flucht, aber ihr wurde bewußt, daß es keinen Sinn hatte, wenn sie losrannte. Jorge war immer schneller.
Seine Hand ergriff ihren Ellbogen. Er schob sie weiter. Nina stemmte sich nicht gegen den Griff, als sie über das alte Kopfsteinpflaster schritten.
Je näher sie dem Ziel kamen, um so mehr veränderte sich die Gegend.
Nina spürte es sehr deutlich. Sie hätte das Gefühl, Schatten zu sehen, die über der Straße hingen, sich bewegten, verdichteten und sich zu unheimlich wirkenden Szenenbildern zusammensetzten.
»Was ist das?« hauchte sie.
Jorge gab keine Antwort. Auch ihm waren die Schatten aufgefallen, nur wollte er nicht darüber reden. Er hatte gespürt, daß sich die Umgebung veränderte, und diese Veränderung mußte mit dem Amulett zusammenhängen. Er schob seine Hand in die Tasche und umklammerte das wertvolle Stück. Es hatte sich erwärmt. Als er mit den Fingerkuppen über den Schlangenkörper tastete, war ihm, als würde sich dieser bewegen. Ja, er zuckte auf dem Stein.
Also lebte er…
Das Ziel war nah. Jorge spürte seine innere Spannung.
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