0438 - Schlangenhand
Der Schlangenzauber hielt ihn in seinem Bann. Auf seiner Stirn lag kalter Schweiß. Er hatte keine Ahnung, was um sie herum vorging, aber manchmal, wenn er seinen Fuß vorsetzte, glaubte er, ins Leere zu treten. Der Boden war zwar noch vorhanden, nur schien er immer wieder zurückzuweichen, so daß Jorge ihn verfehlte.
Jetzt klammerte sich auch Nina an ihn. »Spürst du es?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Ja.«
»Was ist das?«
»Ich kann es dir nicht erklären. Wir scheinen uns über dem Boden zu bewegen. Da hat sich was verschoben.«
Während sie ging, blickte sie sich ängstlich um. »Aber das ist doch nicht normal.«
»Ist es auch nicht.«
»Und du kannst nichts tun?«
»Sieh nach vorn«, sagte er leise. »In dem Lokal brennt Licht. Da müssen wir hin.«
»Und die Segelschiffe?« hauchte sie mit einer fast ersterbenden Stimme.
»Was ist mit ihnen?«
»Welche Schiffe?«
Sie lachte auf. »Ich habe Masten gesehen, mein Lieber. Ja, Schiffsmasten, die über die Dächer der Häuser hinweg ragen. Seit wann liegen hier im Hafen alte Segelschiffe?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Jorge, das sind Gespenster.«
»Möglich.« Mehr wollte er nicht sagen. Zielstrebig ging er auf das Ziel zu.
Sein Blick war hart geworden, der Herzschlag hatte sich beschleunigt. Er spürte, daß er der Lösung aller Rätsel auf der Spur war. Sein Schlangen-Amulett log nicht.
Und so ging er weiter. Behutsam, vorsichtig und tastend. Die letzten Meter lagen vor ihm. Er sah die Tür des Lokals, die Fenster, die Schatten davor.
Menschen, die sich bewegten.
Sie gingen entweder auf und ab oder lehnten an den Mauern. Manche hielten Becher und Krüge in den Händen, aus denen sie tranken, aber es war kein Geräusch zu hören.
Man blieb stumm.
Er ging weiter. Die Tür der alten Kaschemme war jetzt zum Greifen nah.
Jorge brauchte nur den Arm auszustrecken, was er auch tat. Doch Nina hielt ihn zurück. »Willst du tatsächlich dort hineingehen?«
»Ich muß!«
»Und dann?«
Er gab keine Antwort mehr, sondern drückte die Tür auf. Das Ziel war erreicht!
***
Die Welt war eine völlig andere. Zwar lag eine normale Hafenkneipe vor ihnen, aber der leere Schankraum erschreckte sie doch. Auch eine von den Besuchern verlassene Gaststätte kann unheimlich wirken.
Besonders dann, wenn der Wirt auf Besucher wartet.
Natürlich hatte er gehört, wie die Tür aufgestoßen wurde. Er stand hinter der Theke und drehte sehr langsam den Kopf, um den beiden Besuchern entgegenzuschauen.
Die traten vorsichtig ein. Jorge ging vor. Seinen rechten Arm hatte er zurückgestreckt und umfaßte die Hand des ihm folgenden Mädchens.
Ninas Augen waren weit geöffnet. Sie atmete nur noch flach und leise pfeifend. Angst zeichnete ihre Züge, gepaart mit einer gewissen Neugierde.
»Nicht so ängstlich!« hörten sie die Stimme des Wirts. »Kommt ruhig näher, ihr beiden. Ich freue mich über jeden Gast, der mich besucht. Und über euch am meisten.«
Selbst Jorge traute sich nicht so recht. Er suchte die Gäste, die seiner Ansicht nach noch bis vor kurzem dagewesen sein mußten, denn er nahm den Geruch von Tabakqualm und Schweiß wahr. Den konnte auch der sich müde unter der Decke drehende Ventilator nicht verscheuchen.
»Kommt her…«
Als der Wirt seinen Worten ein breites Grinsen folgen ließ, sah er aus wie ein lauernder Teufel. Auf seiner Oberlippe spannte sich dabei der Bart.
»Der macht mir angst!« hauchte Nina.
»Mir ist er auch nicht gerade sympathisch.«
»Ist es der, den du suchst?«
Sie waren stehengeblieben, und Jorge schüttelte den Kopf.
»Dann können wir ja wieder gehen.«
»Nein, wir bleiben. Ich bin hier richtig, das spüre ich genau. Vielleicht kann er uns helfen.«
Davon war Nina nicht überzeugt. Sie sehnte sich zu ihren Großeltern zurück, bei denen sie lebte. Zudem fragte sie sich, ob sie es je schaffte, wieder dorthin zurückzugehen, wo sie hergekommen war.
Der Wirt betrachtete sie lauernd. Er trug über seinem nackten Oberkörper nur eine ärmellose Lederweste. In seinen dunklen Pupillen glitzerte es, als hätte dort jemand Augentropfen hineingekippt.
Da Nina nicht wollte, schob Jorge sie weiter.
Einen Arm hob der Wirt an und krümmte seine Zeigefinger. »Kommt ruhig her zu mir, ihr werdet durstig sein. Ich habe euch erwartet und einen Wein kühlgestellt.«
»Ich will nichts trinken!« hauchte das Mädchen.
»Aber ich lade dich ein, Kleine. Du bist sehr hübsch. Ich liebe hübsche Mädchen.« Er lachte so rauh,
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