0442 - Der Blick ins Jenseits
Tüten ab. Sie bewegte sich wie ein Automat. »Wo ist Bill?«
»Unter der Dusche«, sagte Jane.
Sheila lächelte. »Er hat getrunken, um zu vergessen. Es ist ja auch furchtbar, was geschehen ist.« Sie schüttelte den Kopf und weinte still vor sich hin.
Jane warf Suko einen fragenden Blick zu. Keiner der beiden traute sich so recht, Sheila anzusprechen.
Suko nickte.
»Ich?« fragte Jane leise.
»Ja.«
Die ehemalige Hexe ging auf Sheila zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Diese Geste sollte etwas Beruhigendes und Tröstendes haben.
Es lag noch nicht lange zurück, da hatte Jane getröstet werden müssen, weil sie festgestellt hatte, daß die Hexenkräfte, unter denen sie lange litt, noch nicht völlig verschwunden waren. Verborgen schlummerten sie in ihrem Innern und waren mit einer nahezu brutalen Macht ausgebrochen, als sich Jane in höchster Gefahr befand.
Damit mußte sie noch fertig werden, aber in stilleren Stunden und nicht unter einem solchen Streß wie in den letzten Stunden.
»Willst du mich trösten?« fragte Sheila.
»Vielleicht…«
Sheila Conolly drehte ein wenig den Kopf. »Das finde ich nett, aber was kann man zum Trost sagen, wenn ein sehr guter Freund stirbt? Daß alles so weiterlaufen muß wie bisher? Daß das Leben nicht beendet ist? Daß es wieder einen Frühling, einen Sommer, den Herbst und auch den Winter gibt? Natürlich, das alles stimmt, aber so etwas ist in Augenblicken wie diesem einfach nebensächlich geworden…«
»Sheila, ich möchte dir etwas anderes sagen.«
»Gut, ich höre.«
»Wahrscheinlich ist John nicht tot. Ich bin sogar sicher, daß er noch lebt.«
Sheila hatte die Worte gehört, ein Schütteln rann durch ihren Körper.
»Bitte nicht«, sagte sie mit leiser Stimme. »Bitte nicht jetzt. Ich… ich kann diese Scherze nicht vertragen.«
»Das meine ich ernst.«
Sheila ging einen Schritt vor, und Janes Hand rutschte von ihrer Schulter ab. Sie gab keine Erwiderung, drehte den Kopf, blickte Suko an und bewegte sich mit steifen Schritten dorthin, wo ein freier Sessel stand, den sie auch brauchte, da Sheila die Beine wegknickten. Sie fiel auf den Sitz.
»Du hast doch etwas gesagt, nicht wahr?« fragte sie nach einer Weile.
»Ja.«
»Kannst du das noch einmal wiederholen?«
Das wollte Jane nicht. Sie nickte Suko zu, der verstand und sich vor Sheila aufbaute. »John ist nicht tot!«
»Das habe ich gehört. Und?«
»Sheila - er ist nicht tot, haben wir gesagt. Erlebt!«
»Was?« Zum erstenmal reagierte sie normal. Das Blut schoß wie eine Welle in ihr Gesicht zurück. »Nicht tot? Er lebt? Aber das kann doch nicht sein, nein! Die Leiche, ihr habt ihn doch gesehen. Ich wollte ihn auch sehen und…« Sie war völlig durcheinander, und Suko mußte sie wieder in den Sessel zurückdrücken.
»Bleib ruhig, Sheila, bitte bleib ruhig.«
Sie stand auf. Hektisch und ruckartig. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie durch das Haar. »Aber… ich, nein, ihr habt den Toten doch gesehen und wart davon überzeugt, daß es John Sinclair ist. Wieso sagt ihr jetzt, daß er lebt?«
»Wir sind auf einen Trick reingefallen.«
Sheila schaute Jane an. Aber Johnny kam und wollte etwas. »Nein, bitte, Johnny, geh auf dein Zimmer. Ich komme gleich zu dir.«
»Ja, ja, ihr seid alle so traurig.« Er verließ den Raum. Die Wölfin, die sich sonst in seinem Zimmer aufhielt, ging nicht mit. Sie blieb, als könnte sie alles verstehen.
»Was war das für ein Trick?«
»Ein Doppelgänger«, sagte Suko diesmal. »Perfekt gemacht. Nur die Narbe fehlte.«
Sheila überlegte einen Moment. »Und das gibt euch die Hoffnung, daß John noch lebt?«
»Unter anderem.«
»Was denn noch?«
»Es fehlten auch seine Waffen.« Diesmal sprach Jane wieder. »Unter anderem das Kreuz.«
»Ja«, murmelte Sheila und ging zur Bar. »John legt es freiwillig niemals ab.« Sie räusperte sich. »Jetzt brauche ich einen Drink, einen Doppelten.«
Jane lächelte. »Er sei dir gestattet.« Sheila nahm Cognac. Da alle drei schwiegen, hörte sich das Gluckern in der Flasche überlaut an. Sheila hielt den Schwenker zwischen beiden Handflächen, als wollte sie den Drink noch einmal anwärmen, bevor sie trank.
Sehr langsam führte sie den Rand an die Lippen, nahm einen kleinen Schluck, trank den nächsten und starrte nachdenklich und irgendwie überlegend ins Leere. »Einen hundertprozentigen Beweis, daß wir auf einen Doppelgänger hereingefallen sind, gibt es aber nicht, oder?«
»Nein!« gab Suko zu.
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