0442 - Der Blick ins Jenseits
Schritten ging sie auf den großen Eingang des Gebäudes zu.
Der Wind frischte auf. Zum erstenmal brachte er Feuchtigkeit mit.
Schwere Regentropfen klatschten gegen das Gesicht des Mädchens.
Sie verengte die Augen ein wenig, rieb den Staub heraus, ging aber weiter, und auch das plötzliche Donnern stoppte sie nicht.
Dann stand sie am Eingang.
Auf einmal wurde ihr komisch. Eine andere Kraft preßte ihr Herz zusammen. Die Beklemmung machte ihr zu schaffen. Irgend etwas würde sie überraschen.
Arlette rief den Namen des Geisterjägers.
Nein, ihre Stimme war zu schwach. Er würde sie nicht hören können, und sie vernahm auch keine Geräusche. Arlette hatte das Gefühl, ein Totenhaus zu betreten, als sie die nächsten Schritte ging, im Eingang stehenblieb und den Blick nach links richtete.
Sofort sah sie die Wand, und das magische Hologramm zeigte ihr die Tiefe der Dimension, in die so etwas Ähnliches wie ein Weg hineinführte, der irgendwo in der Unendlichkeit sein Ende fand.
Aber davor, nicht in der Wand, sondern im Raum, sah sie noch etwas anderes.
Eine schreckliche Szene, die das Blut in ihren Adern erstarren ließ…
***
Schon vor langer Zeit haben die Menschen dem Tod ein Bild gegeben, um ihn zu begreifen.
Wer sich alte Bilder und Holzschnitte anschaute, der konnte die Gestalt des Knöchernen immer wieder in verschiedenen Posen und Darstellungen wiedersehen.
Auch ich sah ihn jetzt.
Nur mit dem einen Unterschied, daß dieses Skelett vor mir keine Zeichnung war, sondern lebte.
Eine Gestalt des Schreckens, die ihr magisches Reich verlassen hatte, um zu töten.
In der rechten Hand hielt der Tod die gefährliche Sense, in der linken aber das Buch der grausamen Träume, in dem nicht nur die Regeln der Hölle niedergeschrieben worden waren, sondern man auch mein Schicksal verewigt hatte und wahrscheinlich auch das meiner Vorgänger, die einmal im Besitz des Kreuzes gewesen waren.
Hector de Valois und Richard Löwenherz, denn als diese Personen hatte ich schon einmal gelebt.
Es gibt das absolut Böse. Darüber war ich sehr genau informiert. Aber es befindet sich nicht auf der normalen Welt, sondern in einer Person manifestiert, die den Namen Luzifer trägt.
Vielleicht wäre dieses Böse auch im Buch der grausamen Träume hinterlassen worden, aber die Gegenkraft hatte dafür gesorgt, daß dem nicht so war. So wuchs aus dem Buch der grausamen Träume für das Böse an sich nicht eine Gefahr hervor. Dabei brauchte ich nur an meinen Bumerang zu denken.
Nur konnte ich damit nichts anfangen. Wenn in diesem Buch mein Schicksal vorgezeichnet war, würde es sich hier auch erfüllen. Davon mußte ich ausgehen.
Stand tatsächlich der Schwarze Tod vor mir? Oder war es nur einfach der Tod, der durch die Geschichte der Menschheit geisterte, der in Träumen gesehen und von Künstlern nachgemalt worden war?
Die Gestalt konnte erschrecken. Das bleiche Gebein wurde von dieser schwarzen Kutte verdeckt, die einen Stich ins Grünliche hatte, wie mir bei genauerem Hinsehen auffiel. Unter der hochgezogenen Kapuze sah ich das dämonische Knochengesicht. Ebenfalls überaus bleich, mit tiefen Augenhöhlen, in denen die Schwärze stand und die mit der des Alls innerhalb der Wand durchaus zu vergleichen war.
Das Sensenblatt zitterte in der Hand des Tods, wenn er seine knöchernen Arme bewegte. Er hatte noch nicht angegriffen, aber mit der linken Hand vollführte er eine Bewegung, die bewirkte, daß die Blätter umschlugen, das Buch selbst aber auf einer bestimmten Seitenzahl offenblieb.
Das mußte etwas zu bedeuten haben. Und schon hörte ich die Stimme.
Ob sie aus dem Jenseits zu mir drang oder aus dem leeren Rachen des Skeletts, war für mich nicht feststellbar, aber der Tod las mir mein Schicksal vor.
»Und so steht geschrieben, daß der letzte Sohn des Lichts vor seinem absoluten Ende ein Blick in das Jenseits werfen darf. Was allen Menschen verwehrt wird, sei ihm gestattet. Er soll erkennen können, wie das Jenseits wirkt, wie es aussieht und wie die dort lebenden Kräfte sich bemühen, die Seelen der Toten zu behalten. Das Jenseits öffnet ihm seine Pforten, es schickt seinen Diener, um auch den letzten in der Reihe zu holen. Was zu Beginn der Welt von allen Kräften gemeinsam geschaffen wurde, kann nicht zerstört werden. Es ist ewig, wie auch die Dunkelheit. Noch streiten sich beide Kräfte um die Herrschaft im Jenseits, und es wird am Ende der Zeiten erst den Sieger geben. Es steht auf der Kippe. Welcher Kraft
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