0449 - Der Tod im Mädchen-Pensionat
blieb Hippie stehen.
»Die Jungs sind mit der Tatbestandsaufnahme im Zimmer von Ann Roach fertig. Sobald wir jetzt mit dem Vater gesprochen haben, können wir die Leiche wegbringen lassen. Ich habe das Zimmer abgeschlossen und erst einmal ein Polizeisiegel auf die Tür geklebt.«
Ich nickte. Wenn der Vater von Ann Roach vernünftig blieb, würde er nicht darauf bestehen, sie zu sehen.
Ich hatte Väter gesehen, die in einer solchen Situation einfach zusammengeklappt waren, still, leise, in einer Verzweiflung, die ohne Ausdruck blieb. Andere waren explodiert wie Bomben, hatten Gott und die Welt und die Polizei im Besonderen angeklagt. Aber wie auch immer sie reagierten, sie machten es einem verflucht schwer. Wenn man einen Mörder finden will, kann man es sich nicht leisten, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
***
Ich setzte meinen Weg fort. In der Halle des Wohnhauses kamen Phil, ein Detective und Barbara Musgrave gerade die Treppe herab.
»Wo willst du hin?« erkundigte sich mein Freund.
»Ich wollte zu dir.«
»Wir sind fertig. Der Schlüssel steckte in der Tür des Kleiderschranks. Wenn jemand anders als sie selbst das Gewehr herausgenommen hat, dann muß dieser Jemand gewußt haben, wo er den Schlüssel finden konnte. Wir wollen mit ein paar Mädchen sprechen. Miß Musgrave behauptet, daß zwei oder drei Mädchen gesehen haben könnten, wo sie den Schlüssel gewöhnlich verwahrte. Wir müssen das nachprüfen.«
»Ja, natürlich«, murmelte ich und schloß mich dem Zug an.
Ich verließ als letzter das Gebäude, und da offenbar niemand mehr im Hause war außer der toten Ann Roach, griff ich intuitiv im Vorbeigehen nach dem Lichtschalter und knipste alle Lampen aus.
Bis zu diesem Augenblick hatten sich uns eigentlich mehr Widersprüche und Rätsel als Erklärungen aufgetan. Wie war der Mörder von der Galerie wieder heruntergekommen? War der Täter, der auf Lis Triggling geschossen hatte, auch der Mörder von Ann Roach? Bestand zwischen beiden Morden ein ursächlicher Zusammenhang? Warum waren die beiden Mädchen ausgerechnet an dem Abend ermordet worden, als das Hunter College seinen Eröffnungsball für das Herbstsemester gab? Wie war der Mörder an das Gewehr von Barbara Musgrave gekommen? Oder war sie selbst die Mörderin? Was stimmte an ihren Altersangaben nicht? Fragen über Fragen.
Und dabei standen wir erst am Anfang. Es mussten noch weiß der Himmel wie viele Leute gründlich vernommen werden, bis wir imstande sein würden, ein wenig tiefer in das ganze Milieu einzudringen. Man würde die Nachforschungen auch auf die Umgebung der Mädchen, und das hieß: auf ihre Eltern, ausdehnen müssen. Phil und ich würden dazu die Maschinerie des FBI in Gang setzen müssen.
Ich warf meine Zigarette in die Büsche neben dem Weg. Jedenfalls würde es wieder einmal ein Wochenende werden, das man sich im Kalender rot anstreichen konnte.
»Hallo, Sherlock Holmes!«, sagte jemand leise, als ich aus dem Vorraum in die Turnhalle trat.
Es waren nicht nur ihre Augen. Auch ihre Stimme hatte etwas, was einen Mann leicht in Unruhe versetzen konnte. Ich drehte mich langsam nach rechts. Sie kam hinter einer der meterlangen Fahnen hervor, die an der Stirnwand der Turnhalle hingen.
»Fanny Hill«, murmelte ich. »Pfui, was lesen Sie bloß für Bücher?«
»Pfui«, erwiderte sie. »Sie auch?«
Ich faßte sie am linken Ellenbogen. »Jetzt kommen Sie mal mit, Sie kleines Biest«, sagte ich fest. »Wir werden jetzt einen Schluck Whisky miteinander trinken, weil mir die Kehle ausgedörrt ist wie nach einem Hundert-Meilen-Marsch durch eine mittelprächtige Wüste. Und bei der Gelegenheit werden Sie mir endlich Ihren richtigen Namen verraten, sonst —«
Ich vollendete den Satz nicht. Sie sah mich aus den Augenwinkeln neugierig an.
»Sonst?« wiederholte sie.
Ich flüsterte es ihr ins Ohr:
»Sonst hole ich mir von Ihrem Vater die Erlaubnis, daß ich Ihnen mal den Hintern versohlen darf.«
»Uii!« rief sie bewundernd. »Würden Sie das wirklich tun?«
»Wenn Sie mir noch einen dritten literarischen Namen auftischen, steigen die Chancen dafür ganz gewaltig.«
»Wunderbar«, schwärmte sie. »Sie sind der erste Mann, der nicht dauernd irgendwo unter meinen Fußsohlen herumkriecht.«
Wir hatten das Fußende der langen Tafel erreicht, wo niemand mehr saß. Ich griff nach einer der Karaffen, in denen ausgezeichneter, goldbrauner schottischer Whisky war und schenkte einen Finger breit für das Mädchen, zwei Finger
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