045 - Das Kind des mordenden Götzen
kraftlose Äderchen zogen sich unter der blanken Haut. Der Kopf war im Verhältnis zum zierlichen Körper viel zu groß, doch die Züge im Gesicht waren unübersehbar die eines Kindes. Eines zwölfjährigen Jungen vielleicht. Unter der vorgeschobenen Stirn blinzelten kleine Äuglein tief in ihren Höhlen. Keine Brauen standen darüber. Die Stelle war kahl wie der Schädel. Ein spitzes Kinn ragte knochig aus dem kleinen Gesichtchen. Die Wangen waren flach und wie die Kopfhaut von blauen Äderchen durchzogen.
Der riesige Kopf pendelte auf einem dünnen Hals, den ein Mann mit einer Hand umfassen konnte. Schmal und zerbrechlich wirkten die mageren Schultern, die in zerfetztes Tuch gehüllt waren. Dürre Kinderarme ragten daraus hervor. Kalkweiße Haut spannte über den Knochen der Ellenbogen.
Das Kind kauerte mit hochgezogenen Knien neben dem Schlammloch und horchte in sich hinein. Es legte den Kopf schräg, als würde es einer Stimme lauschen. Ab und zu nickte es pendelnd mit dem großen Kopf. Die Äuglein starrten geistesabwesend ins Nichts.
Die blauen Schleier über dem Schlammloch verdichteten sich. Die dreckigbraunen Blasen wurden größer und zerplatzten lauter. Gebannt verfolgte das mißgestaltete Kind, wie die Rauchschwaden aus dem Loch zur Hölle Gestalt annahmen. Es juchzte freudig erregt, als der giftige Qualm die Form von wallenden Gewändern annahm, über dem das hagere Antlitz eines mumienhaften Greises materialisierte.
Das Kind schlug die Händchen zusammen und kicherte entzückt. Undefinierbare Laute entrangen sich seiner Kehle. Dann hörte es die Worte deutlicher.
»Uxantara«, jubelte das Kind und sprang aus seiner Kauerstellung hoch. »Uxantara, ich bin hier. Ich erwarte dich, Uxantara!« Die Stimme des Kindes piepste im schrillen Falsett.
»Ich freue mich«, sagte die Gestalt hohl. Noch waren ihre Konturen verschwommen. Noch schwebte sie über dem dampfenden Loch. Doch ihr Körper wurde zunehmend fester. Er löste sich aus seiner Umgebung, wurde undurchsichtig. Uxantara, der Geistpriester, setzte einen Fuß auf den Boden neben dem Schlammloch. Dann den zweiten.
»Mein Gebieter!« rief das Kind. »Ich erwarte deine Befehle.«
Die fleischlose Maske des Geistes blieb starr. Er hob gravitätisch die Arme.
»Knie nieder, Menschenwurm«, dröhnte es dumpf in dem Gewölbe, und das Kind ließ sich fallen. Es wälzte sich im Staub.
»Deine Befehle, o Herr. Wie lauten sie?«
Uxantara stand. Er bewegte den Mund nicht beim Sprechen.
»Das Reich des Sonnengottes wird zurück auf diese Erde kommen. Xandros lebt, und wir sind seine Diener.«
»Xandros lebt«, wiederholte das Kind stereotyp und schaute andächtig auf zu der bläulich fließenden Gestalt des Geistpriesters.
Das Kind lebte seit zwei Jahren neben den Höhlen am Sumpf, der glühendheiße Dämpfe in das Land über der Sierra entließ. Einst war es ein Kind wie jedes andere gewesen. Lustig und stets zu kindlichen Scherzen aufgelegt. Es hatte nicht darauf gehört, als ihm verboten wurde, unweit der Stelle, an der es sich jetzt befand, in die Sümpfe zu gehen. Dort waren sie besonders gefährlich. Die giftigen Dämpfe strahlten. In ihnen waren Uranvorkommen gelöst, die tief in der Erde lagen. Die Strahlen hatten das Kind verbrannt und es zur Unkenntlichkeit entstellt. Doch die giftigen Dämpfe hatten die Natur auch noch auf andere Weise verändert. Der Kopf des Kindes war zu seiner jetzigen Form angeschwollen. Unter dem Einfluß der strahlenden Dämpfe hatte das Gehirn unkontrolliert zu wachsen begonnen. Einige Partien waren verkümmert, andere erstarkt. Das Kind wurde in die Fähigkeit versetzt, sich unsichtbar zu machen. Es konnte anderen Menschen seinen Willen aufzwingen. Und wenn es nicht wollte, daß andere Menschen es sahen, dann sahen sie es auch nicht. Uxantara hatte es gelehrt, diese Fähigkeit bis zur Perfektion weiterzubilden.
Uxantara!
Das Kind hatte verzweifelt in dieser Höhle gesessen, nachdem der Sumpf es so grausam verändert hatte. Und wie an diesem Tag war aus den Nebelschwaden der Geistpriester« entstanden, hatte vor seinen Augen materialisiert, war zu Uxantara geworden. Er kam aus den Tiefen der Unterwelt. Er kam von einem Ort, an den ein Fluch ihn verbannt hatte. Uxantara war kein Mensch. Er war ein Geist. Und er wollte die Regentschaft des mordenden Gottes wieder errichten. Die Menschen sollten erzittern unter seiner Knechtschaft. Das war die Rache für seinen Fluch, der ihn für ewige Zeiten in die Tiefen des Nichts
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