0450 - Der Fürst der Finsternis
niedergeschlagen?
Er sah seine Gegnerin vor sich, die ihn mit blitzschnellen Griffen in die Wohnung gezogen und ihm einen betäubenden Schlag versetzt hatte. Einen normalen Menschen hätte dieser Schlag für wenigstens eine halbe Stunde ausgeschaltet; Julian war kein normaler Mensch.
Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah das Mädchen an, das vor ihm stand, die Arme verschränkt, aber sichtlich bereit, sofort wieder zuzulangen, wenn es sein mußte. Das Mädchen war leidlich attraktiv, soweit Julian das beurteilen konnte; er hatte auf seiner Wanderung durch Baton Rouge schon entschieden häßlichere Frauen und Mädchen gesehen. Seine Gegnerin besaß eine dezent braune Hautfärbung; sie schien ein Mischling zu sein. Eine Kreolin? Ja, so nannte man die Mischlinge hier im Süden der USA wohl. Sie mußte eine Kreolin sein, und sie war kaum älter als 16 Jahre…
»Was machen Sie hier?« fragte Julian.
Sie lachte spöttisch. »Das sollte ich lieber dich fragen, Freundchen! Ich wohne hier nämlich! Wer hat dir erlaubt, ohne anzuklopfen, einfach hier herein zu kommen?«
»Sie wohnen hier?« Julian erhob sich. Er bewegte sich langsam, um der Kreolin keinen Grund zu einem erneuten Angriff zu bieten. Er war jetzt vorbereitet; er hätte einen neuen Angriff mühelos mit der Kraft seiner Gedanken abwehren können. Aber er wollte es nicht. Er wollte gegen dieses Mädchen keine Gewalt anwenden, nicht einmal in Notwehr.
Warum? fragte etwas in ihm.
Er konnte sich diese Frage nicht beantworten, und er wollte es in diesem Augenblick auch gar nicht.
Er betrachtete sie. Sie trug ein kurzes, buntes Kleid. Ihre langen Beine waren sehenswert. Aber seltsamerweise achtete Julian darauf nur am Rande. Ihm gefiel, wie sie sprach. Sie besaß eine Aura, die ihn anzog. Kurz flammte in ihm der Wunsch auf, alles für dieses Mädchen zu tun, um ein Lächeln zu gewinnen, einen Kuß genießen zu dürfen, Haut zu streicheln…
Es war… ein seltsames Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte und das ihn verwirrte. Er erinnerte sich an die schwarzhaarige Frau, die sich Shirona genannt hatte und die nicht Shirona gewesen war. In Quinhagak, jenem kleinen Dorf an der Kuskokwim Bay in Alaska, hatte sie ihn verführt. Er dachte auch an die Silbermond-Druidin Teri Rheken, die ihn in weitere Feinheiten der Liebeskunst eingeweiht hatte. Sex… mehr war das nicht gewesen. Julian spürte ein seltsames Begehren, wie er es noch nie zuvor gespürt hatte. Er begehrte dieses Mädchen, aber es war nicht unbedingt Sex, den er wollte. Es war etwas anderes…
Er konnte mit diesem Gefühl nichts anfangen. Er hatte unheimlich viel an Wissen in sich hineingestopft in seiner kurzen Entwicklungszeit. Aber hier versagte dieses Wissen, das sich nur auf biologische Phänomene reduzierte. Er analysierte; Pheromone waren nicht im Spiel, die ihn hätten anlocken können. Die Kreolin wirkte allein durch ihre Erscheinung auf ihn.
Möglicherweise war es ihr nicht einmal bewußt.
»He, was ist mit dir, mon ami ?« hörte er ihre Stimme. »Hast du die Sprache verloren?«
»Du kannst… hier nicht wohnen«, sagte er zögernd. »Ein anderer…«
Es war die Aura eines anderen Menschen, die ihn hierher gezogen hatte! Er wußte es jetzt, in diesem Moment. Und er wußte auch, wessen Aura es war. Er spürte sie wieder, diese Ausstrahlung, die er kannte. Das Mädchen paßte nicht in das Bild.
» Ombre suche ich - den Schatten!«
Als er ihr ›mon ami‹ gehört hatte und registrierte, daß es französisch war in einem Land, wo die Amtssprache doch englisch war, begriff er plötzlich auch den Namen Ombre, der ihm damals in seiner Traumwelt genannt worden war. Ombre war ebenfalls ein französisches Wort. Schatten.
»Wieso glaubst du Ombre hier zu finden? Wer bist du, daß du Ombre suchst? Woher kennst du ihn?« Das Mädchen zeigte Erregung. Ihre Hände zuckten.
»Ich habe ihn einmal gesehen… in einer anderen Welt…«
»Du bist verrückt! Geh! Suche Ombre anderswo, nicht hier!«
»Aber er ist hier! Ich spüre ihn doch…«
Und plötzlich starrte er die Kreolin intensiv an, machte ein paar Schritte vorwärts und ging an ihr vorbei, ohne daß sie in der Lage war, ihn aufzuhalten. In ihren Augen funkelte es. Sie verstand sich selbst nicht. Wieso trat sie diesem jungen Mann nicht in den Weg? Aber da war er schon an ihr vorbei!
Vor einer Zimmertür blieb er stehen.
Diesmal öffnete er sie nicht einfach, sondern er klopfte an, nur wartete er die Antwort nicht ab.
»Nein!«
Weitere Kostenlose Bücher