0453 - Im Bann des Pegasus
sind da!« sagte Gabriela neben mir. Ihre Stimme war nicht lauter als das Flüstern des Windes.
Ich blickte mich um. Wohin ich auch sah, der flache Felsen schien kein Ende nehmen zu wollen. In der Nacht war das Meer nicht zu sehen, nur der weite Himmel mit seinen prächtigen Gestirnen.
»Hast du hier oft deine Zeit mit Kostos verbracht?« erkundigte ich mich.
»Ja, die Tage und auch die Nächte. Wir saßen auf den noch sonnenwarmen Gestein Rücken an Rücken, sprachen über die Welt und die Gesetze, die alles zusammenhält. Es waren wunderschöne Stunden. Jede Minute ist für mich zu einem Erlebnis geworden, und dies nicht allein in der Erinnerung, John. Aber ich trage dir nichts nach. Vielleicht ist Kostos den falschen Weg gegangen, haben ihn böse Gefühle übermannt…«
»Pegasus tötete ihn!«
»Ja, auch er ist unberechenbar, obwohl er allein…«
»Jemand saß auf ihm!«
»Wer?«
»Ich kenne ihn nicht. Ein Krieger. Er trug auf dem Kopf einen Silberhelm, ein Schwert in der Scheide und Teile einer Rüstung. Er sah gefährlich aus.«
»Das ist Dochonios!«
Ihre nächste Frage klang erstaunt. »Du kennst ihn nicht, obwohl du Träger des dritten Auges bist?«
»Nein.«
»Dochonios ist der Bezwinger des Pegasus. Nur er konnte ihn reiten, so erzählt man sich. Die Loge der Mystiker verehrt ihn, da er es geschafft hat, die Flügel der Phantasie und der Kreativität zu zähmen und sich gleichzeitig von ihnen hinwegtragen zu lassen. Da sind der Mensch und das Fabeltier eine wunderbare Symbiose eingegangen. Das musst du verstehen, Bruder.«
»Jetzt ja.«
»Aber komm. Wir wollen zum Zentrum des Felsens gehen, wo wir immer gesessen haben. Es ist ein wichtiger Weg, den du einfach kennen musst.«
Ich ließ mich wieder von ihr führen. Der Wind blies hier oben stärker. Er brachte etwas von der Weite des Meeres mit, die diese Insel umgab.
»Wie lange existiert Dochonios schon?« wollte ich wissen.
»So lange, wie die Sage lebt.«
»Aha.« Ich wusste noch immer nicht so recht, ob ich alles glauben sollte und ob auch all das eintreffen würde, was mir die junge Frau erzählt hatte. Eines war allerdings sicher.
Das geflügelte Pferd Pegasus hatte ich mir nicht eingebildet. Es existierte tatsächlich.
An manchen Stellen sah ich im Felsen Einkerbungen, die mir vorkamen wie Symbole und Zeichen.
Natürlich sprach ich meine Begleiterin darauf an. Sie wusste auch nichts darüber und konnte nur Vermutungen anstellen. »Es kann sein, dass vor Jahrtausenden sich jemand an diesem Felsen zu schaffen gemacht hat. Bewiesen ist es nicht, aber die Erleuchtung wird uns noch kommen. Die Loge der Mystiker breitet sich aus. Das Zeitalter der Psychonauten bricht an. Weg mit der großen Technik, weg mit den Kräften, die nicht kontrollierbar sind. Die alten Zeiten kehren zurück und damit das Wissen um die Welt.«
»Hat Kostos davon gesprochen?«
»Er war davon überzeugt. Er hat mir auch geraten, zu lesen. Ich tat es in meiner freien Zeit und habe sehr viele Dinge erfahren, die wichtig sind.«
Sie wollte nicht mehr sprechen. Wir gingen schweigend den Rest des Wegs. Nur unsere Schritte waren zu hören. Mal lauter, mal leiser. Es kam immer auf die Beschaffenheit des Gesteins an.
Dass wir am Ziel waren, merkte ich daran, dass Gabriela nicht mehr weiterging. Sie deutete zu Boden. »Hier haben Kostos und ich immer gesessen«, sagte sie mit einer andächtig klingenden Stimme.
»Es waren unsere wertvollsten und schönsten Stunden.«
Ich folgte der Richtung ihres ausgestreckten Zeigefingers und erkannte auf dem Fels tatsächlich den großen Umriss irgendeines Zeichens. Um besser sehen zu können, schaltete ich meine lichtstarke Bleistiftleuchte ein.
Ihr dünner Strahl zeichnete die Umrisse sehr genau nach. Ich hätte natürlich damit rechnen müssen, aber die Tatsache traf mich dennoch überraschend.
Vor mir im Felsen eingeritzt oder eingemeißelt, zeichnete sich übergroß das Zeichen ab, das sich auch auf meinem Kreuz in der oberen Hälfte befand.
Das Allsehende Auge! Ich war zunächst einmal stumm, bis ich Gabrielas Frage hörte. »Na, siehst du es auch? Habe ich dir zuviel versprochen?«
»Das sicher nicht.«
»Im Dreieck haben wir Rücken an Rucken gesessen, gesprochen und auf die Erleuchtung gewartet.«
»Kam sie bei Kostos?«
»Ja, er besaß das dritte Auge. Er hat es genau gespürt, wie er mir sagte. Ich bin noch zu unreif. Deshalb möchte ich gern wissen, wie es sich mit dir verhält. Komm, wir werden uns so
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