0456 - Der Geisterseher
selbst uralte Erzdämonen nach seiner Pfeife tanzen.
»Eines Tages«, flüsterte sie draußen, »eines Tages bringe ich dich um! Ich hasse dich, du Ungeheuer!«
Versuch's! vernahm sie seine spöttische Gedankenstimme durch die verschlossene Tür hindurch. Du mußtest mir keinen Treue-Eid schwören, du kannst gern versuchen, mich zu töten, wenn dich das befriedigt. Aber kannst du es auch wirklich? Ist diese Aufgabe nicht etwas zu groß für dich?
»Eines Tages wirst du es erleben«, keuchte sie und hastete davon. Sie wußte, daß sie abermals eine Niederlage hatte hinnehmen müssen.
Er, den eines Tages zu kontrollieren sie immer gehofft hatte, war ihr größter persönlicher Feind!
***
Zamorra zuckte unwillkürlich zusammen, als er spürte, wie Merlins Stern von einer Sekunde zur anderen von seiner Brust verschwand.
Nicole mußte das Amulett gerufen haben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Das bedeutete aber auch, daß sie sich in Gefahr befand.
»Höllenspuk!« entfuhr es ihm. »Jetzt geht's los!« Wenn sie das Amulett brauchte, dann reagierte es auf feindliche Magie! So unmöglich das auch war - es sah so aus, als hätten sie jetzt endlich einen Ansatzpunkt.
Jetzt mußte er nur noch wissen, wo Nicole war, um ihr helfen zu können!
Er hörte aus der Ferne einen Schrei. Sofort begann er zu laufen, stürmte aus dem Zimmer hinaus und ließ Raffael, den Gnom und den Grande einfach stehen. War der Schrei nicht aus der unteren Etage des Haustraktes gekommen? Zamorra stürmte bereits die Treppe hinunter.
Ein schwarzes Etwas sauste an ihm vorbei. »Mir nach, Herr!« kreischte der Gnom. »Ich spüre sie! Sie ist in großer Gefahr!«
Es war unglaublich, wie schnell dieser Bursche mit seinen kurzen Beinen sein konnte. Zamorra spurtete hinter ihm her. Plötzlich blieb der Gnom stehen, als sei er gegen eine Wand geprallt. Um ein Haar hätte Zamorra ihn im vollen Lauf gerammt. Er konnte gerade noch ausweichen und ebenfalls stehenbleiben.
»Weg!« entfuhr es dem Gnom. »Einfach weg!«
»Was soll das heißen?« fragte Zamorra erregt.
»Daß ich nichts mehr spüren kann«, sagte der Gnom. »Sie sind einfach verschwunden. Von einem Moment zum anderen.«
»Wer?« fragte Zamorra.
Der Gnom deutete auf die Tür des Wohnraums, die nur gut zehn Meter entfernt war und halb offen stand.
In der Tür lag das Amulett…
***
Julian Peters hatte seine Bestürzung gut versteckt. Stygia hatte davon nichts mitbekommen. Sein gedankliches Wortgeplänkel, mit dem er auf ihre Morddrohung eingegangen war, hatte seine Gefühle weiter abgeschirmt.
Er hatte sie nicht allein hinausgeworfen, weil er ihre Bespitzelung leid war, sondern vor allem, weil er sie ganz speziell jetzt nicht in seiner Nähe haben wollte. Von der weiteren Demütigung durch den Hinauswurf einmal ganz abgesehen. Die aber mußte sein. Stygia war eine starke Dämonin, stärker, als jeder andere sie einschätzte, und vielleicht stärker, als sie selbst ahnte. Sie würde eine ständige, gefährliche Gegnerin sein. Immer wieder würde sie nach Möglichkeiten suchen, ihm zu schaden. Aber er wollte den Rücken frei haben, nicht nur ihr gegenüber. Er provozierte sie immer wieder. Eines Tages würde sie explodieren und eine Unvorsichtigkeit begehen. Dann konnte er sie ganz offiziell in ihre Schranken verweisen und bestrafen und damit nicht nur ihr, sondern auch allen anderen Dämonen der verschiedenen Schwarzen Sippen zeigen, daß er keinen Widerstand gegen seine Autorität duldete. Das würde auch Erzdämonen wie Astaroth und Astardis einschüchtern. Julian wartete nur auf einen handfesten Grund, einen gewaltigen Rundschlag zu führen. Und je mehr er Stygia provozierte und ihren Haß schürte, um so eher kam diese Gelegenheit.
Doch momentan berührte ihn das alles nicht. Selbst wenn Lucifuge Rofocale persönlich ihn zu einer Besprechung zitiert hätte, hätte er ihm einen Korb gegeben.
Ombres kleine Schwester entführt!
Nun, ›klein‹ war ein relativer Begriff. Sie war über sechzehn Jahre alt und höchst energisch. Aber irgend etwas faszinierte ihn an ihr. War es die Tatsache, daß sie körperlich annähernd in Julians Alter war und sie beide lediglich die Entwicklungsgeschwindigkeit trennte, die bei Julian nur ein Jahr gebraucht hatte, um ihn auf das Stadium eines Achtzehnjährigen zu katapultieren? Wahrscheinlich nicht. Es mußte etwas anderes sein. Aber so, wie er sich einerseits auf unerklärliche Weise zu Ombre gezogen fühlte und den Neger liebend gern als
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