046 - Der Schatten des Werwolfs
seiner Laufbahn als Privatdetektiv hatte er ja schon einiges gesehen. Er hatte Fotos von wilden Partys geschossen, die in Orgien ausgeartet waren.
Aber noch nie zuvor hatte er gesehen, dass sich völlig normale Menschen in unheimliche Geschöpfe verwandelten, die man höchstens in einem Horrorfilm zu Gesicht bekam.
Archer schüttelte seine Überraschung ab und konzentrierte sich ganz aufs Fotografieren.
Miss Lorrimer – er wusste jetzt bereits aus den mitgehörten Gesprächen, dass sie Elvira hieß – verwandelte sich langsam. Die buschigen Brauen in ihrem Gesicht wurden immer dichter. Die Perlen fielen aus ihrem kunstvoll aufgebauten Frisurenturm, und das lange Haar fiel locker auf ihre nackten Schultern. Haare wuchsen aus ihrer Stirn und verschmolzen mit dem Haupthaar. Ihre Augen änderten sich, wurden rund und schimmerten glutrot. Sekunden später war das Gesicht mit einem dichten, rötlich schimmernden Pelz bedeckt. Der Mund wurde zu einem geifernden Maul, das sich rasch öffnete und schloss und dabei gewaltige Zähne entblößte.
Die junge Frau riss sich mit einem Ruck das giftgrüne Kleid vom Leib. Für einen Augenblick waren lange Beine zu sehen, schlanke Arme und feste, große Brüste; dann schien die Gestalt des Mädchens durchscheinend zu werden, die Arme und Beine verkürzten sich. Als ihr Körper wieder deutlich zu erkennen war, war er nur noch entfernt menschenähnlich – er war mit einem dicken Pelz bedeckt.
Aber nicht nur Elvira Lorrimer hatte sich verwandelt, auch die anderen durchliefen eine Metamorphose und wurden zu abscheulichen Bestien. Lediglich fünf Männer wurden von der Verwandlung nicht betroffen. Sie saßen bewegungslos auf ihren Plätzen – darunter auch Ronald Chasen – und nahmen von den unheimlichen Geschehnissen nichts wahr. Sie schienen in Trance zu sein.
Sieben Wolfsgestalten umtanzten die fünf Männer. Dabei stießen sie klagende Schreie aus. Eine hüpfte auf allen vieren auf und ab, andere streckten verlangend die Arme nach den Fünf aus.
Archer begann zu zittern. Die Laute klangen jetzt sinnlich, lockend. Er riss sich die Kopfhörer von den Ohren und legte einen neuen Film in die Kamera. In die fünf Männer kam Bewegung. Zuerst hoben sie die Arme, dann bewegten sich die Finger ruckartig. Die Kerzen auf den Tischen erloschen; nur der hochstehende Vollmond erhellte die Szene. Ronald Chasen stand schwankend auf.
Durch die Infrarotbrille konnte Fred Archer alles ganz genau sehen. Immer wieder fotografierte er. Chasen stützte sich mit einer Hand auf der Tischplatte auf, die sich langsam zur Seite neigte. Einige Gläser rutschten runter und zerschellten auf dem Terrassenboden. Eine der unheimlichen Wolfsgestalten näherte sich Chasen. Es war Elvira Lorrimer, die ihre prankenartigen Hände auf seine Schultern legte und sich an seinen Rücken schmiegte. Aus den Kopfhörern, die Archer über einen Ast geworfen hatte, drang dumpfes Röcheln, in das sich heisere Lustschreie mischten.
Das kann es alles gar nicht geben , dachte der Privatdetektiv. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Einige der Wolfsmenschen griffen nach den fünf Männern, die noch immer wie in Trance waren. Sie trieben sie auf die schmale Tür zu, die ins Haus führte. Einer nach dem anderen verschwand.
Schließlich waren nur noch Ronald Chasen und Elvira Lorrimer zu sehen. Archer bedauerte, dass er kein Gewehr bei sich hatte. Er konnte nicht eingreifen … ihm blieb nichts anderes übrig, als die unfassbaren Vorgänge zu fotografieren.
Das Wolfswesen, in das sich Elvira Lorrimer verwandelt hatte, umtänzelte Ronald Chasen, gab ihm einen Stoß in den Rücken und drängte ihn zur Tür, die weit offen stand. Chasen verschwand in der Dunkelheit des Hauses, und das Wolfsmädchen folgte ihm. Archer setzte die Kamera ab und griff nach den Kopfhörern. Es blieb still, aber nur wenige Sekunden, dann hörte er einen schrecklichen Schrei. So schrie nur ein Mensch in höchster Todesangst. Der Schrei erstarb, und alles blieb ruhig.
Archer wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Er war ziemlich sicher, dass er Ronald Chasen nicht mehr lebend sehen würde. Nach einigen Minuten hatte er sich etwas von seinem Schock erholt und begann die Ereignisse zu verarbeiten.
Verdammt noch mal, jetzt gerade musste Wood nicht da sein!
Er fragte sich, was er unternehmen konnte. Viel war es nicht … Er konnte nur abwarten. Allein – oder auch zusammen mit seinem Kollegen – konnte er nicht viel gegen
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