0468 - Der Mordgötze
ein halbes Jahrhundert zu spät und nützte zweitens heute so gut wie nichts mehr, weil der Wind die Abgaskonzentrationen der Randgebiete ebenfalls über die Innenstadt trieb. Trotzdem war allein schon der Versuch anerkennenswert, die autobegeisterten Italiener in die öffentlichen Verkehrsmittel zu zwingen, deren Benutzung immerhin sagenhaft preiswert war im Vergleich zu anderen westeuropäischen Städten.
Auch Felicitas benutzte daher vorzugsweise Busse und Bahnen. Nur wenn es darum ging, Fotos zu machen, waren Patrizia und sie meistens auf das Auto der Fotografin angewiesen. Zum einen der umfangreichen Ausrüstung wegen, zum anderen, um eine schnelle ›Fluchtmöglichkeit‹ zu haben. Und drittens fuhren die öffentlichen Verkehrsmittel nicht überall dorthin, wo Patrizia Fotos machte. Wären sie gestern bei der Fotoserie in der Via Veneto auf den Bus angewiesen gewesen, es hätte höllischen Ärger mit den carabinieri gegeben. So aber hatten sie blitzschnell verschwinden können.
Felicitas ging die Strecke von der Bushaltestelle bis zu Patrizias Haus zu Fuß. Das waren ja nur ein paar hundert Meter. In der Toreinfahrt stand der betagte Chevrolet; angesichts der hohen Benzinpreise und der hohen Luxussteuer für Fahrzeuge mit mehr als zwei Litern Hubraum sowie des akuten Parkplatznotstands in der Ewigen Stadt alles andere als ein Vernunftauto. Aber man hatte Platz darin. Notfalls konnte man sich in dem Wagen sogar an- oder aus- oder umziehen. Und an der vorderen Stoßstange klebte noch eines der alten schwarzen Kennzeichen mit den weißen Zahlen; kleinstes Nummernschild Westeuropas überhaupt und an dem riesigen Straßenkreuzer geradezu witzig wirkend. Die neuen, weißen Schilder mit der schwarzen Schrift waren weitaus weniger schön. Sie glichen zu sehr dem Europa-Standard. Patrizia hatte einmal verraten, daß sie das Auto weniger des gebotenen Platzes wegen gekauft hatte, sondern des extremen Kontrastes von Fahrzeuggröße und Kennzeichen wegen. Es war eben noch vor dem Farb- und Größenwechsel der Kennzeichen zugelassen worden.
Felicitas ging an dem Wagen vorbei zum Haus. Mit Wally war hier im vorderen Bereich nicht zu rechnen. Der Alligator wurde durch einen stabilen Zaun ferngehalten. Felicitas fragte sich, was heute an Aufnahmen anfiel. Sie war Patrizias liebstes Modell, und irgendwie hatten sie seit über einem Jahr täglich miteinander zu tun. Da war es kein Wunder, daß sie sich nicht mehr gegenseitig anriefen, um Termine zu vereinbaren, sondern daß Felicitas einfach ›jeden Morgen zur Arbeit‹ ging. Und weil Patrizia sich ausschließlich auf Aktfotografie spezialisiert hatte, fragte sich Felicitas schon seit einiger Zeit, wofür sie überhaupt noch Kleidung brauchte. Eigentlich nur für den Weg hin und zurück. Sie hatte sich im Laufe der Zeit so an ihre Nacktheit gewöhnt, daß sie Kleidung inzwischen als lästig empfand.
Schon seit Monaten besaß sie einen Schlüssel zu Patrizias Haus, drückte aber trotzdem grundsätzlich immer erst auf den Klingelknopf. Schließlich konnte es sein, daß Patrizia nicht allein war, und Felicitas wollte nicht ohne Vorwarnung in eine Schlafzimmer-Szenerie stürmen.
Felicitas klingelte wie immer dreimal; dann schloß sie die Haustür langsam auf und ließ sich mit dem Eintreten Zeit. »Patrizia?« rief sie. »Ich bin's! Wo steckst du?«
Patrizia antwortete nicht. Dabei hätte sie mittlerweile Zeit genug gehabt, einen möglichen Liebhaber im Schrank zu verstecken. Felicitas durchforschte Wohnraum und Atelier, aber von Patrizia war nichts zu sehen.
Vor der Schlafzimmertür blieb die Blonde schließlich stehen. »Bist du da drinnen? Schläfst du noch? Oder was ist los?«
Es kam immer noch keine Antwort.
Eigentlich war es nicht Felicitas' Art, störend irgendwo einzudringen, und sie fragte sich später, warum sie nicht tatsächlich einfach wieder umgekehrt war, um sich einen freien Tag zu gönnen und am Strand von Ostia auf Männerjagd zu gehen. Statt dessen öffnete sie nach erneutem Anklopfen ganz gegen ihre Gewohnheit die Schlafzimmertür.
Sie warf einen nur kurzen Blick auf das Bett und auf das, was darauf lag .
Sie schrie nicht.
Ihr wurde nur speiübel, und sie taumelte erst ins Bad und dann zum Telefon, um die Polizei zu rufen.
***
Von seinem Platz auf der Frisierkommode aus beobachtete Xotopetl seine neue Lebensspenderin, die ihn mit zu sich nach Haus genommen hatte. Sie hatte ihn erst einmal dort abgestellt und war dann todmüde ins Bett gefallen. Sie
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