0474 - Der Hexenstein
nach unten hingen und mit ihren Spitzen bedrohlich über dem Kopf des Zombies schwebten.
Er stampfte weiter. An der linken Seite begleitete ihn das rauschende Geräusch eines Gletscherflusses, der von den hohen Berggraten nach unten floß und später in die Kander mündete.
Das Wasser schimmerte graugrün. Wo es über die gewaltigen Steine schoß, schnellte und hüpfte, wirbelte Gischt auf, so daß die Fluten aussahen wie Schaumstreifen.
Ein grandioses Bild, auch im Winter. Der Zombie kümmerte sich nicht darum. Unentwegt bewegte sich der untote Leib weiter, dabei den Spuren der Skier folgend.
Der nächste Tunnel erschien vor ihm. Wie auch der erste war er eine krumme Röhre. In seinem Innern stand die Kälte wie eine Wand. Die Temperaturen lagen hier zweistellig unter dem Gefrierpunkt.
Und der Untote wankte weiter. Er war über und über mit Schnee bedeckt. Die weiße Pracht klebte an seiner Kleidung, sie pappte im Gesicht ebenso wie an den Armen und Beinen.
Er fror nicht.
Zudem hörte er plötzlich eine Stimme. Die Hexe rief ihn.
»Gleich bist du bei mir, mein Freund. Ich warte auf dich. Ich freue mich darauf…«
»Ja, ich komme…«
»Geh über die Steinbrücke. Danach wirst du den Stein im Wasser liegen sehen. Du kannst ihn nicht verfehlen. Er sieht aus wie ein schräg liegendes Buch.«
»Ich werde ihn suchen und finden…«
Bis zur Brücke mußte er noch einige Kehren umwinden. Manchmal ging er im Schatten der Felswand weiter, dann wiederum an der anderen Seite des Wegs, wo ein Sicherheitsgitter den Spaziergänger vor einem Absturz bewahrte.
Nach der folgenden Rechtskurve sah er den Beginn der Brücke. Ein Monument aus Gebirgssteinen, mit einer hohen und breiten beiderseitigen Brüstung versehen und einem großen Halbbogen aus Stein darunter. Er überspannte die Flußbreite und gab der Brücke den nötigen Halt. Unter dem Bogen schäumte das Wasser her. Hier war die Schlucht am breitesten, später würde sie sich wieder verengen.
Der Zombie wanderte über die gebogene Brücke, sank tief in der weißen Pracht ein und verfolgte gleichzeitig die Spuren, die Skier hinterlassen hatten.
Zwei Menschen waren vorbeigefahren, denn Thomas sah vier Spuren im Schnee.
Ihm sollte es recht sein…
Er hatte die Worte der Hexe nicht vergessen. Nicht weit von der Brücke entfernt sollte an der rechten Seite der Hexenstein liegen, in dem die Hexe gefangen worden war. Er hatte lange genug in Kandersteg gelebt, um auch den alten Aberglauben zu kennen, nach dem Garsterntalwanderer vor dem Hexenstein stehenbleiben und einen kleinen Stein darauf werfen sollten. Blieb der geworfene Stein darauf liegen, durfte der Wanderer passieren und hatte, der Legende nach, den Segen der Hexe erhalten.
Es lagen zahlreiche Kiesel und flache Steine auf der Schräge. Fast jeder Spaziergänger versuchte es, wenn er die Stelle passierte. Und im Sommer waren es nicht wenige.
Hinter der Brücke durchschnitt er eine Linkskurve. An der linken Seite strömte jetzt der Bach entlang. Er war hier nicht so tief, so daß der fast viereckige, große, schrägstehende Stein deutlich hervorschaute. Auf ihm lag eine dünne Eisschicht, in der viele Kiesel gefangen waren.
Thomas verlangsamte seine Schritte. Die letzten Meter schlich er dahin und blieb dicht am Rand des steilen Abhangs stehen. Unter dem schäumte das grüngraue Wasser wie eine lange, nie abreißende Zunge vorbei. Er sah nur den Stein.
Auf telepathischem Wege nahm er wieder mit dem Bösen Kontakt auf. »Ich bin da!«
»Das weiß ich, mein Freund.«
»Und wo bist du?«
Er hörte ein Kichern, und es kam ihm vor, als hätte der Stein zu ihm gesprochen. »Ich stecke vor dir. Man hat mich gebannt. Ich will, daß du mich befreist.«
»Wie kann ich das?«
»Du mußt die Bibel holen…«
Er riß die Arme hoch und ging zurück. Dabei schüttelte er sich wie ein nasser Hund, so daß Schneeflocken von seinem Körper flogen. Das Wort Bibel hatte ihn gestört. Er haßte es, wenn solche Dinge ausgesprochen wurden.
Die Hexe schien seine Befürchtungen bemerkt zu haben. »Keine Sorge, es ist die Gasternbibel. Wenn du sie geholt hast und eine bestimmte Seite aufschlägst, wirst du mich befreien können, denn dort stehen die alten Worte. Man hat sie damals niedergeschrieben, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.«
»Wo finde ich das Buch?«
»Gehe ins Tal und gehe den Weg durch, bis du an das Gasthaus ›Zum Steinbock‹ gelangst. Dort befindet sich die Bibel. Das Haus ist menschenleer, die
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