0474 - Der Hexenstein
schnell vorbeifließenden, gelblichen Lichtstreifen der Wagenbeleuchtungen - all das gehörte einfach dazu und war ebenso schnell verschwunden, wie es gekommen war.
Fast einen Tag blieb der Zombie in der Nische liegen, ohne entdeckt zu werden.
Er wußte nicht, ob es draußen hell oder dunkel war. Der Tunnel war ein einziges Verlies, da schmolzen die Zeiten zusammen.
Thomas konnte froh sein, daß ihm die rasenden Räder weder Arme, Beine noch den Kopf abgetrennt hatten. Zwar zeigte sein Körper tiefe Wunden, auch von Stichen, doch aus diesen Wunden floß kein roter Lebenssaft.
Nur ein schleimiges Zeug, gelblich, auch weiß schimmernd, und dazwischen manchmal hellgrün.
Das brachte ihn nicht um. Und was ihn nicht umbrachte, machte ihn auch nicht kampfunfähig.
Wenn Zombies je einen Schock erleiden können, so hatte er einen abbekommen. Aber der ging vorbei. Sein Instinkt sagte ihm, daß es an der Zeit war, den Tunnel zu verlassen und sich woanders für lange Zeit ein Versteck zu suchen.
Thomas kroch aus der Nische heraus. Er stemmte sich wie ein Betrunkener in die Höhe, hatte erst Mühe, das Gleichgewicht zu finden, dann fiel er gegen die Wand, wobei seine Füße auf dem feuchten Untergrund abrutschten und er sich im letzten Augenblick noch an den Schienen stützen konnte.
Schließlich stand er.
Schwankend, kaum in der Lage, sich in Bewegung zu setzen. Sein Kopf pendelte einmal nach vorn, dann wieder nach hinten. Thomas suchte das Gleichgewicht und fand es.
Plötzlich fühlte er sich so sicher, daß er die ersten Schritte wagen konnte. Die Tunnelwand diente ihm dabei als Stütze. Er schabte mit der Schulter ebenso oft dagegen, wie er sich mit der Hand und dem Ellbogen abstützte, aber nur so kam er weiter.
Schritt für Schritt - Meter für Meter. Irgendwann, er hielt den Kopf wieder einmal erhoben, sah er einen dunkelgroßen Umriß - die Tunnelausfahrt.
Gleichzeitig aber wurde sie von einem kompakten Schatten verdunkelt, als ein Zug einfuhr.
Die Stirnlampen der Lok sahen aus wie helle Glotzaugen. Sie näherten sich schnell, die beiden Lichtkegel huschten durch die Finsternis, zerrissen sie an einigen Stellen und hätten den Zombie sicherlich auch erfaßt.
Thomas ließ sich so schnell fallen, als hätte man ihm die Beine unter dem Körper weggezogen. Er landete auf dem Boden, blieb liegen und rührte sich nicht, bis ihn der Spuk passiert hatte.
Danach raffte er sich wieder auf.
Torkelnd wie ein Betrunkener wankte er dem Ausgang zu, erreichte ihn, drückte sich rechts daneben in die Büsche, die unter seinem Gewicht brachen, und dachte daran, daß der Tunnel endlich hinter ihm lag.
Die Hölle hatte ihn ausgespuckt, und das sollten die Menschen zu spüren bekommen.
Nicht heute, nicht morgen - irgendwann…
***
Thomas hatte sein Versteck gefunden. Nicht weit von Kandersteg entfernt, wo es ein Hochtal gab, über das man sich die schlimmsten Geschichten erzählte.
Das Gasterntal.
Eng, unheimlich, durchtost von einem klaren Gebirgsbach. Allein der Zugang zum Tal war ein Abenteuer für sich, denn der schmale Weg führte an der Felswand entlang, wand sich in Kehren durch unheimlich wirkende Tunnels und besaß als Begleiter den stets rauschenden Gletscherbach.
Ein Tal, in dem es Gasthäuser gab, das seine Geschichte hatte und im Winter wie tot wirkte. Die Menschen verließen im Herbst die Gasthäuser und ihre Wohnungen, um nach Kandersteg zu gehen.
Niemand kam auf die Idee, während des großen Schnees freiwillig im Gasterntal zu bleiben. Für den Zombie war es jedoch ein ideales Versteck.
Für Monate fand er dort Unterschlupf, fiel wie ein Biber in den tiefen Schlaf, doch seine Sinne arbeiteten wie Sensoren. Er sandte böse Gedanken aus, denn er wußte, daß es etwas in seiner Nähe gab, mit dem er paktieren konnte.
Noch meldete sich niemand. Thomas gab nicht auf - und hatte Erfolg.
Jemand antwortete ihm.
Schwach, sehr schwach nur, mit Hilfe der Telepathie konnte er aber den Namen der anderen hören.
Es war die Hexe vom Gasterntal!
»Komm!« hörte er sie flüstern. »Komm her. Komm zu mir. Wir beide, wir werden es schaffen…«
»Wo bist du…?«
Er hörte ihre Stimme wieder. »Du wirst mich finden - und befreien…«
»Ja«, antwortete er, »ich werde kommen, und ich werde dich finden, meine Freundin…«
Minuten später schon war das Grauen wieder unterwegs…
***
Kandersteg lag begraben unter einem dicken, gewaltigen Leichentuch. Der Schnee war in diesem Jahr in Massen aus den dunklen
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