0478 - Der Friedhof der Lebenden
sie.
Julian trat hinter Angelique und berührte ihre Schultern. Sie zuckte zusammen und wollte unter seinen Händen wegtauchen, aber er hielt sie fest.
»Hör mir zu«, bat er. »Ich weiß, daß ich für dich unverständlich gehandelt habe. Schon seit langer Zeit. Aber kannst du nicht verstehen, daß ich sehr viel nachholen muß? Angelique, ich habe achtzehn Jahre innerhalb von rund zwölf Monaten hinter mich gebracht. Ich habe in diesen zwölf Monaten vielleicht zehnmal mehr gelernt als andere Kinder in diesen 18 Jahren. Aber - das war nur Theorie. Das war nur eine Ansammlung von Wissen. Was mir fehlt, ist die Erfahrung. Und dabei kannst nur du mir helfen, Angelique.«
»Indem ich mich mit dir zusammen in einer Blockhütte im Himalaya-Schnee verkrieche und dir beim Meditieren zuschaue, ansonsten aber zu nichts anderem zu gebrauchen bin als zum Staubwischen und Essenkochen? Du hast ja nicht einmal…« Sie verstummte jäh. Du hast ja nicht einmal versucht, mit mir zu schlafen, hatte sie hinzufügen wollen, unterließ es jetzt aber. Warum ihn nachträglich noch mit der Nase auf etwas stoßen, was er damals versäumt hatte?
Sie befand sich in einem Dilemma. Sie hatte Julian geliebt, und sie liebte ihn auch jetzt noch, auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen wollte. Sie war trotz ihrer 17 Jahre immer noch Jungfrau, und wenn es jemanden gab, von dem sie sich wünschte, daß er sie zur Frau machte, dann wäre dies Julian. Aber er hatte sie nicht angerührt. Auf der einen Seite war sie ihm dafür dankbar, weil die anderen Jungs, mit denen sie früher zu tun gehabt hatte, sie lediglich ins Bett zerren wollten. Julian war rücksichtsvoll, und das rechnete sie ihm hoch an.
Andererseits hatte sie ihm Signale gesandt - und er hatte sie ignoriert. Er war nur auf sich selbst fixiert gewesen. Und Angelique fühlte sich mehr und mehr zurückgesetzt. Sie wollte nicht nur ein Dekorationsstück in seiner Blockhütte sein, das nebenbei auch noch über ein paar nützliche hausfrauliche Fähigkeiten verfügte. Sie wollte, daß er sie als Mensch liebte, als Frau, die ihm in die Einsamkeit gefolgt war. Sie war eine Großstadtpflanze, und sie liebte die Wärme Louisianas. Im Himalaya herrschten Einsamkeit und grimmige Schneekälte. Warum hatte er nicht gesehen, welches Opfer sie für ihn brachte, als sie Yves und den im Rollstuhl sitzenden Maurice verließ, um mit Julian zusammenzusein?
Sie war von ihm enttäuscht, und das konnte er nicht so einfach aus der Welt schaffen.
»Ich bin nicht gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten«, sagte er.
»Das verlange ich auch gar nicht von dir«, erwiderte sie kühl. »Hättest du zwischendurch die Freundlichkeit, mich loszulassen?«
Er trat zurück. Angelique wandte sich zu ihm um und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Wo ist Yves?« fragte sie.
»Er ging, als ich kam. Er sagte mir etwas weniger freundlich als du, daß er mich nicht sehen möchte, aber nicht die Macht habe, mich aus dieser Wohnung fernzuhalten, deshalb gehe er. Und ich möchte dich nicht zu lange belästigen.«
Julian schluckte. »Ich kann ihn verstehen. Ich habe dich ihm und Maurice weggenommen. Ihr seid eine verschworene Gesellschaft gewesen. Aber die Zeit bleibt nicht stehen. Alles verändert sich.«
Angelique nickte.
»Alles verändert sich, Julian«, sagte sie. »Du hattest deine Chance und hast sie nicht genutzt. Geh.«
Er sah sie an. Sein Gesicht wurde um eine Nuance blasser.
Er könnte mich zwingen, seine Geliebte zu sein, seine willfährige Sklavin, dachte sie. Mit seiner geradezu unheimlichen Fähigkeit, Traumwelten zu erschaffen, die der Wirklichkeit in nichts nachstanden, in der aber nur Julians Gesetze - sogar Naturgesetze -galten, konnte er sie zwingen. Aber er tat es nicht.
»Geh«, wiederholte sie. »Es ist vorbei, Julian. Quäle mich nicht länger. Ich möchte dich nicht mehr sehen.«
Wortlos sah er sie an. Ein paarmal schien er etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber doch. Schließlich wandte er sich ab und verließ das Zimmer, die Wohnung, stieg die Halbtreppe hinauf und ging auf die Straße hinaus. Dort stand er eine Weile, dann setzte er seinen Weg fort und verschwand in der einsetzenden Morgendämmerung.
Angelique hockte in ihrem Zimmer. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Zum zweitenmal hatte sie ihn hinausgeworfen, und zum zweiten Mal war er einfach so gegangen.
Verdammt, warum kämpfte er nicht um sie? Warum gab er so einfach auf?
Sie verstand das nicht. Aber sie
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