0478 - Der Friedhof der Lebenden
alles ruhig. Keine Zurufe, keine Befehle. Die Unheimlichen waren erstklassig aufeinander eingespielt. Sie wußten, was sie zu tun hatten. Als Wendy den Kopf wandte, sah sie die Verfolger, die so ausgeschwärmt waren, daß sie ihr den Weg abschneiden konnten, wenn sie Haken zu schlagen versuchte. Ihr blieb nur noch die Möglichkeit, immer weiter geradeaus zu laufen. Wenn da kein Weg war, mußte sie sich irgendwie durch den Wald kämpfen.
Sie wollte nicht wieder in die Hände der Unheimlichen fallen. Sie lief um ihr Leben.
Und sie ignorierte die innere Stimme, die ihr zuflüstern wollte, daß es aussichtslos war; daß sie zu weit von jeder Ortschaft war, um entkommen und andere Menschen um Hilfe bitten zu können.
Vor ihr tauchte eine Hecke auf, die den Waldfriedhof begrenzte. Die Hecke war fast so hoch wie Wendy groß war. Und nirgendwo in der Nähe einen Durchgang zu sehen!
Aber plötzlich befand sie sich hinter der Hecke, wälzte sich im Gras und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatte gar nicht bewußt registriert, mit welch ungeheurer Kraft sie sich selbst über diese Hecke hinwegkatapultiert hatte. Sie hatte zwar mal davon gelesen, daß der Mensch angesichts des Todes ungeahnte Kraftreserven freisetzen kann, aber sie hätte sich niemals vorstellen können, welche Leistung sie da gerade vollbracht hatte. Sie dachte auch jetzt nicht daran. Sie mußte nur weiter. Noch waren die Verfolger hinter der Hecke, aber jeden Moment konnten sie wieder auftauchen und die Verfolgung fortsetzen.
Teile ihrer Kleidung blieben an Dornen und Zweigen hängen, Stoff riß. Wendy kümmerte sich nicht darum. Das Überleben war wichtiger.
Sie taumelte nur noch, japste verzweifelt nach Luft. Leistungssport hatte sie nie betrieben. Sie erschöpfte sich bei diesem rasenden Hindernislauf zu schnell. Die Umgebung begann sich zwischendurch schon um sie zu drehen. Aber sie mußte durchhalten. Wohin sie lief, wußte sie nicht. Sie besaß in dieser ihr unbekannten Gegend absolut keine Orientierung.
Plötzlich stolperte sie; sie hatte ein Hindernis übersehen. Wild ruderte sie mit den Armen, konnte ihren Fall aber nicht mehr stoppen.
Das tat ein anderer für sie, der sie mit seinen starken Armen auffing.
»Ganz ruhig, Mädchen«, sagte er. »Ganz ruhig. Jetzt ist es vorbei.«
***
Angelique Cascal hatte Valery nach Hause gebracht. Valery, die Alkohol in diesen Mengen nicht vertrug, war nicht einmal mehr in der Lage gewesen, ihre Wohnungstür aufzuschließen. Angelique, an Kummer gewöhnt, hatte das übernommen, Valery ausgezogen und ins Bett gebracht. Dann heftete sie einen großen Zettel an den Badezimmerspiegel. Was auch immer geschehen ist - ich rufe dich zwischen Mittag und Kaffee an - Angelique. Lieber wäre es ihr gewesen, zu Hause auf einen Anruf zu warten, statt selbst aktiv werden zu müssen, aber die kleine Kellerwohnung besaß kein Telefon. Wer hätte es bezahlen sollen? Wenn sie sich anrufen ließ, ging das nur bei Buddy, und das auch erst, wenn er seine Kneipe geöffnet hatte. So war es einfacher, Valery von einer Telefonzelle aus anzurufen - in der Hoffnung, daß sie dann wieder wach und einigermaßen nüchtern war - und zwischenzeitlich keine Dummheiten gemacht hatte.
Angelique kehrte in die kleine Kellerwohnung zurück. Mit Grausen dachte sie an Yves Standpauke. Er war zwar »nur« ihr älterer Bruder, aber immerhin war er derjenige, der das Geld heranschaffte, wie auch immer er das tat, denn einer geregelten Arbeit ging er nicht nach. Er hatte von der Gesellschaft nie die Chance erhalten, zu einem ihrer »nützlichen« Mitglieder zu werden. So lebte er von Gelegenheitsjobs oder von anderen Dingen, nach denen Angelique lieber erst gar nicht fragte. Für sie war wichtig, daß am Monatsende die Kasse stimmte und daß sie mit dem Geld den Haushalt für sich und ihre beiden Brüder führen konnte. Und selbst da mußte sie eben häufig bei Buddy etwas hinzuverdienen. So war es früher gewesen, ehe sie mit Julian in den Himalaya gegangen war, und so würde es wahrscheinlich jetzt auch wieder werden.
Yves hatte immerhin jeden Grund, böse auf sie zu sein.
Aber dann war sie erstaunt, daß in seinem Zimmer kein Licht mehr brannte. Sie klopfte an und öffnete dann vorsichtig die Tür, sprach ihn an. Aber es kam keine Antwort. Sie knipste das Licht an; Yves war nicht da. Das war ungewöhnlich. Was war in ihn gefahren? Sie suchte ihr eigenes Zimmer auf. Schon im Moment, als sie die Türklinke niederdrückte, wußte sie,
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