0478 - Der Friedhof der Lebenden
Alligatorfragment und fliegen dann zu viert nach Louisiana. Allerdings«, er sah die drei Frauen mit offensichtlichem Bedauern an, »werdet ihr euch da etwas anziehen müssen. Die Leute in Baton Rouge sind doch recht konservativ in ihren Auffassungen von dem, was sie für Moral und Anstand halten.«
»Wir werden«, versicherte Nicole, »auch das überleben.«
***
Kurz vor Mittag kehrte der Schatten zurück. Yves Cascal, den sie l’ombre, den Schatten, nannten, weil er bei seinen vorzugsweise nächtlichen Unternehmungen wie ein Schatten war, der aus dem Dunkeln kam und im Dunkeln wieder verschwand, ohne zu zeigen, wer oder was sich hinter ihm verbarg.
Angelique war noch wach.
»Er ist also wieder fort«, sagte Yves leise.
Angelique hob den Kopf mit den verweinten Augen. »Ja«, sagte sie. »Er ist gegangen. Und ich weiß nicht, ob er wiederkommt.«
»Es wäre besser, wenn er es nicht täte«, sagte Yves. »Besser für dich auf jeden Fall. Dieser Junge steckt voller Magie. Er ist rätselhaft und undurchschaubar. Er gehört zu den ganz wenigen Menschen, bei denen ich nicht auf Anhieb sagen kann, ob sie mir gefallen oder nicht. Und bei diesen Fällen schlägt das Pendel meistens nach unten aus.«
Angelique schüttelte den Kopf. »Er ist nicht das, was du in ihm sehen willst.«
»Ich will nichts in ihm sehen«, widersprach Yves. »Ich versuche nur meinem Instinkt zu folgen. Aber ich weiß einfach nicht, wo ich ihn einstufen soll. Es würde mich für dich sehr freuen, wenn er in Ordnung wäre. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Er ist einsam«, sagte Angelique. »Er ist kein Mensch, sondern ein magisches Wesen. Stell dir vor, du würdest dein gesamtes bisheriges Leben auf -sagen wir knappe zwei Jahre zusammenpressen.«
Yves schüttelte den Kopf. »Diese Vorstellung erspare ich mir lieber.«
»Und deshalb ist und bleibt Julian dir auch fremd«, erwiderte Angelique. »Er besitzt mehr Wissen als die meisten Menschen, aber ihm fehlen Lebenserfahrung, weil er seine gesamte Entwicklungszeit dazu verwendet hat, zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen. Und in seinen Träumen konnte er nur wenig Erfahrung sammeln, weil er dort immer der uneingeschränkte Herrscher war und ist.«
»Und einem solch unausgeglichenen Charakter hast du dich angeschlossen? Verdammt, Schwester!« Er faßte sie bei den Schultern und zog sie zu sich heran. »Du hättest damals wenigstens andeuten können, wohin du gingst. Ich habe zwar geahnt, daß du diesem Julian folgtest, das war aber auch schon alles. Ein kleiner Notizzettel hätte gereicht.«
»Es wäre nicht gut gewesen. Julian wollte seine Ruhe. Niemand sollte ihm folgen und ihn aufspüren können. Er hatte gerade die Hölle verlassen, in der er mehr Feinde als Verbündete hat. Er brauchte die Ruhe, er wollte nicht verfolgt und gejagt werden. Und wenn jemand diesen Zettel bei dir gefunden hätte, dann wäre es mit der Ruhe vorbei gewesen.«
»Aber ihr habt euch zerstritten.«
Angelique nickte.
»Du möchtest aber, daß er zu dir zurückkommt.«
»Nein!« protestierte sie. »Ja«, fügte sie dann leise hinzu. »Ich fühle mich so erniedrigt durch seine Egozentrik und seine Überheblichkeit, und doch komme ich einfach nicht von ihm los. Ich wünschte, er wäre nicht so einfach gegangen.«
Sie lehnte sich an ihn. In Situationen wie dieser war er so etwas wie eine Vaterfigur für sie. Er entstammte der ersten Ehe ihres gemeinsamen Vaters, sie der zweiten. Daher der große Altersunterschied. Aber er spielte kaum eine Rolle. Beide hatten sie schon in sehr jungen Jahren wesentlich selbständiger sein müssen als andere Kinder und Jugendliche ihres Alters. Und sie hatten immer miteinander harmoniert.
»Du wolltest mir eine Standpauke halten wegen Valery Cristeen«, sagte sie mit geschlossenen Augen.
»Heißt sie so? Ich habe darüber nachgedacht, während ich unterwegs war. An deiner Stelle hätte ich vermutlich ebenso gehandelt und sie hergeschleppt. Aber - du solltest noch wissen, daß ich mit Dingen dieser Art nichts zu tun haben will.«
»Vielleicht ist es ein einfacher Kriminalfall, eine normale Entführung.«
»Bei der das Entführerauto sich in Nebel auflöst?« Yves schüttelte den Kopf. »Entweder hat sie sich das eingebildet - und dann ist die ganze Story Einbildung. Oder es ist eine teuflische Magie im Spiel, mit der ich nichts zu tun haben will.«
»Aber du besitzt dieses Amulett, mit der du ihr helfen könntest, wenn es sich wirklich um ein magisches Phänomen
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