0478 - Der Friedhof der Lebenden
Cristeen machte einen recht verschlafenen Eindruck, als Angelique Cascal bei ihr anrief. Angelique hatte den Eindruck, daß erst das Telefonklingeln Valery aus dem Schlaf geschreckt hatte und daß sie die Nachricht am Badezimmerspiegel noch gar nicht gelesen hatte; dieser Eindruck bestätigte sich dann schnell.
»Du bist also fit«, stellte Angelique fest. »Ich komme gleich zu dir, okay?«
»He, laß mich doch erst einmal wach werden«, protestierte Valery.
»Dazu hast du zwanzig Minuten Zeit«, beschied Angelique ihr.
Auf die Sekunde pünktlich begrub sie den Klingelknopf von Valery Cristeens Wohnung unter ihrem Daumen. Hinter der Tür polterte etwas, ein recht undamenhafter Fluch ertönte, und dann wurde die Wohnungstür etwas überstürzt aufgerissen. Valery trug einen altmodischen Morgenmantel, ihre Haare waren naß und ungekämmt, und ihr Gesicht war eher grau als schokoladenbraun.
»Komm herein«, murmelte Valery. »Sogar der Kaffee ist fertig. Himmel, mußtest du mich so früh am Morgen aus dem Bett werfen?«
»Es ist Mittag«, versicherte Angelique glaubwürdig. »Kannst du dich überhaupt an das erinnern, was in der letzten Nacht passiert ist?«
»Eher ungern«, murmelte Valery. »Ich hatte Alpträume. Von einer Entführung, bei der sich das Kidnapper-Auto einfach in Nichts aufgelöst hat. Und danach habe ich versucht, deinem Bruder klarzumachen, was geschehen ist, und dann weiß ich nichts mehr. Ein verrückter Traum.«
»Es war kein Traum«, sagte Angelique. »Als wir uns bei Buddy trafen, warst du noch nüchtern. Danach hast du Talsperre gespielt und dich langsam, aber sicher vollaufen lassen. Vermutlich hätte ich an deiner Stelle nichts anderes getan.«
Valery schloß die Augen. »Ich habe deinen Bruder um Hilfe gebeten, nicht wahr?«
»Ich habe ihn gebeten. Aber er hat abgelehnt. Trotzdem denke ich, daß es da noch eine Chance gibt.«
»Was habe ich damit zu tun?« fragte Valery. »Oh, mir ist so übel…« Sie sprang auf und verschwand im Bad. Nach einer Weile kehrte sie zurück; sie sah aus, als hätte sie in der Waschmaschine Verstecken gespielt und sei vom Weißen Riesen versehentlich eingeschaltet worden. »Der ganze Alkohol letzte Nacht… ich habe ihn wohl nicht vertragen. Aber ich mußte einfach abschalten, sonst hätte ich nicht mal in Ruhe schlafen können.«
»Das passiert anderen auch. Vor allem Männern«, stellte Angelique sachkundig fest.
»Ich glaube, das letzte Nacht - das war doch nur ein Alptraum«, sagte Valery. »Oh, mein Kopf! So etwas kann man doch nur träumen.«
»Ich versichere dir: jedes Wort ist leider wahr.«
»Steht es etwa in der Zeitung?« stöhnte Valery. »Die muß noch im Briefkasten stecken.«
»Ich habe sie vorsichtshalber mit hochgebracht«, erklärte Angelique. »Habe sie drüben auf den Tisch gelegt, als ich reinkam. Wie kommst du auf die Idee, was in der Zeitung steht, könnte wahr sein? Aber das konnten sie natürlich noch nicht wissen, sie hatten ja wohl keinen Reporter am Ort des Geschehens, oder? Wie es aussieht, dürftest du die einzige Augenzeugin sein.«
»Aber ich kann nicht zur Polizei gehen!« stöhnte Valery. »Was soll ich tun?«
»Wie gesagt - mein Bruder, auf den ich hoffte, will nicht hineingezogen werden. Aber es gibt da eine andere Chance. Wenn du einverstanden bist, heißt das. Ich kenne einen Mann aus Frankreich, einen Wissenschaftler. Parapsychologe.«
»Also ein Spinner«, seufzte Valery und massierte ihre Schläfen. »Nie wieder Alkohol!«
»Parapsychologie ist eine anerkannte Wissenschaft«, widersprach Angelique. »Außerdem ist der Mann nicht nur Grenzwissenschaftler, sondern auch Dämonenjäger.«
»Dann träume mal weiter«, murmelte Valery. »Das hilft der Entführten auch nicht weiter.«
Angelique schüttelte den Kopf. »Du, ich träume überhaupt nicht. Das ist mein voller Ernst. Der Mann könnte helfen. Er besitzt Möglichkeiten und auch Verbindungen, von denen wir nur träumen können. In diesem Fall brauchten wir die Polizei überhaupt nicht. Magie ist im Spiel, und da ist dieser Professor Zamorra der richtige Mann. Die Polizei würde dir ja ohnehin nicht glauben - dürfen.«
Valery zuckte mit den Schultern. »Der Mann kommt aus Frankreich, sagtest du? Wer soll ihm denn den Flug hierher bezahlen? Vergiß es, Angelique. Mich wundert überhaupt, daß du so davon überzeugt bist. Magie! Als wir uns kennenlernten, warst du wesentlich realistischer.«
»Da hatte ich auch noch nicht so viel erlebt wie jetzt.
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