0479 - Die Nacht der bösen Angela
Schmerzen hätte sie nicht einmal im Ansatz gespürt. Wie tot blieb sie liegen und sah nicht, daß sich über der Quelle am oberen Ende der Felswand ein Schatten abzeichnete, der regungslos stehenblieb und auf die Lichtung hinabstarrte.
Es war Romain Bloch.
Er sah die Blutsaugerin und sprach mit lauter Stimme: »Steh auf. Hoch mit dir! Du bist diejenige, die ich auserwählt habe. Du hast das Erbe übernommen, und es wird die Zeit kommen, wo du es antreten mußt. Hast du gehört?«
Ja, sie hatte ihn gehört, aber sie regte sich nicht. Sie lauschte dem Klang der Stimme nach. Das Timbre erinnerte sie an etwas. Ja, sie kannte die Stimme. Tief in ihrer Erinnerung formten sich die Dinge zu einem Bild zusammen.
Man hatte sie gerufen.
Und sie würde gehorchen!
Dieser Stimme konnte sie nicht ausweichen. Sie mußte ihr folgen, denn sie war ihr Herr.
Angela winkelte die Arme an, stützte die Handflächen auf den feuchten Boden und stemmte sich hoch. Um auf die Beine zu gelangen, gab sie sich selbst Schwung, blieb dann schwankend stehen, stierte schräg über die plätschernde Quelle hinweg und erkannte den Schattenriß ihres Gebieters, der seinen rechten Arm ausstreckte und auf sie zeigte.
»Du bist jetzt eine der unsrigen. Ich werde dich aufnehmen in den Grabgesang der Ahnen. Hör genau zu, wie sie dich willkommen heißen…«
Angela wagte nicht, sich zu rühren. Sie spitzte die Ohren. Sekunden der tiefsten Stille vertropften.
Eine Zeit, in der sich die Dunkelheit noch mehr verdichtete und zu Schatten des Unheimlichen wurde.
Dann hörte sie den Gesang.
Wo er geboren wurde, darüber konnte sie nichts sagen. Er drang aus den Tiefen des Bodens zu ihr hoch, aber sie hatte den Eindruck, als würde er aus dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel wie ein mächtiger Chor auf sie niederfallen.
Süßlich, dennoch mächtig und berauschend drang der Singsang aus der Erde. Es waren manchmal schreiende Stimmen, die ihr Leid klagten, als würden sie unter furchtbaren Schmerzen leiden. Auch Schreie vernahm sie. Spitz, schrill, dann wieder jaulend. Dazwischen die Sphärenklänge eines Totengesangs oder schluchzende Laute, die in kleine Pausen hineinstießen.
Angela konnte nicht sagen, wo die Toten lagen. Sie sah keine Grabsteine, aber dort, wo der Wasserstrahl in das Felsbecken spritze, hörte sich der Gesang viel deutlicher an.
Angela drehte sich im Kreis. Sie spreizte dabei die Arme ab, legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch zur Mondscheibe, die von den grauen Wolken freigefegt worden war.
Er war ihr Kraftspender, und sein fahles Silberlicht verdichtete sich zu einem Schleier, der die einsame Gestalt auf der Lichtung umwob wie ein dünner Mantel.
Angela öffnete den Mund so weit wie möglich. Hell und bleich schimmerten dabei ihre Zähne. Sie wollte das Mondlicht aufsaugen, es trinken, um die Kraft zu erhalten, die ihr ein ewiges Leben ermöglichte.
Die Toten sangen weiter…
Sie begleiteten ihre tanzenden Bewegungen, sie forcierten den Rhythmus, und von der Felsleiste her schaute Romain Bloch so lange kaltlächelnd zu, bis der Gesang mit einem letzten Klagen verstummte und sich die Stille ausbreitete.
Totenruhe wehte über die Lichtung…
Zum erstenmal erklang wieder die Stimme des Gebieters. »Warte auf mich, Angela, ich werde zu dir kommen.« Mit dem Lachen breitete Romain seine Arme aus und sprang.
Angela starrte ihm nach. Sie hatte den Eindruck, als würde er schweben und wesentlich langsamer als ein normaler Mensch fallen, aber er blieb in seiner Gestalt und kam dicht vor ihren nackten Füßen federnd auf. Aus der Hocke schnellte er hoch, schaute sie mit glitzernden Augen an und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ja, meine Teure, jetzt ist es soweit.«
Angela hatte ihn zwar verstanden, aber nicht begriffen. Schon seit geraumer Zeit wunderte sie sich über das Verlangen, das in ihrem Innern tobte.
Es war ein Gefühl, das sie bisher noch nie empfunden hatte. Ein unstillbarer Drang nach etwas Besonderem. Es fiel ihr schwer, darüber nachzudenken, schließlich hatte sie die Lösung gefunden.
»Blut…«, formulierte sie rauh und kratzig das Wort tief in der Kehle. »Bekomme ich jetzt Blut?«
Das letzte Wort hatte sie lauter gesprochen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
»Nein!«
Knallhart schleuderte ihr Romain die Antwort entgegen. »Du wirst kein Blut bekommen. Nicht jetzt. Erst hast du eine Aufgabe zu erledigen. Später, wenn deine Zeit gekommen ist, kannst du dir das Blut holen. Dann darfst
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