0483 - Das Girl, das zuviel wußte
Möglichkeit. Langsam hob sie den Arm und schleuderte den Schuh an die gegenüberliegende Wand.
Krachend schlug er gegen eine der aufgestapelten Pappwände, die sofort zu schwanken begann und ein Lampenstativ berührte. Ruth hörte das Klirren, als es umstürzte und noch ein paar andere Stative mitriß.
Lautlos huschte sie über den freien Raum hinüber zum Notausgang.
Der Mann hatte schnell reagiert. Er sprang nach vorn, auf die umstürzenden Lampen zu. Seine Taschenlampe leuchtete grell in das Durcheinander hinein, aber Ruth zögerte nicht mehr. Sie benützte das Licht jetzt, um schneller voranzukommen, und erreichte die graue Metalltür in dem Moment, in dem der Mörder ihren Trick durchschaute und sich umwandte.
Ruths Finger zerrten an dem Riegel. Aber er war seit Menschengedenken nicht benützt worden und widersetzte sich ihren Versuchen.
Der Mann kam näher. Seine Lampe zeichnete Ruths Schatten scharf auf die Tür.
Sie riß mit aller Kraft an dem verrosteten Riegel. Ein Fingernagel brach ab, sie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen und ihr Make-up verwischten.
Der Mann war dicht hinter ihr. Er knipste seine Lampe aus und packte ihre Schulter.
In dem Moment löste sich endlich der Schrei. Gellend und anhaltend schrie Ruth. Aber niemand hörte sie. Nichts drang durch die schalldichten Mauern nach außen.
Der Mann riß sie zurück, aber Ruths Finger blieben in dem Türriegel verkrallt. Und plötzlich gab er nach. Quietschend wich er zurück, die Tür flog auf, der unerwartete Ruck warf Ruth gegen den Mann, er taumelte etwas, sein Griff lockerte sich, und im nächsten Moment war Ruth schon draußen und stürzte die klapprige Feuerleiter mehr hinunter als daß sie kletterte. Oft stolperte sie und rutschte über mehrere Stufen weiter, aber ihre Hände ließen nicht los. Der Mann über ihr konnte ihr kaum folgen, aber er nahm auch wenig Rücksichten auf seine Hände oder den Anzug. Ruth sah nur einmal nach oben. Sein Schatten war schwarz und drohend gegen den helleren Himmel zu sehen und kam schnell näher.
Dann erreichte Ruth das' Ende der Leiter. Sie ließ sich bis zur letzten Sprosse gleiten und sprang ab. Der harte Betonboden brannte unter ihren Füßen, von denen die Nylonstrümpfe in Fetzen herunterhingen. Aber sie war jetzt zu abgestumpft, um es zu bemerken. Mit letzter Kraft lief sie über den Hof, stemmte das kleine Tor zur Nebenstraße auf und schlüpfte hindurch, als der Mann sich auf den Boden fallen ließ.
In der East 112 Street stand ihr Wagen. Ein dunkelblauer Fiat. Sie hatte nur das eine Ziel, den Wagen zu erreichen, bevor der Mann um die Ecke bog.
Sie hätte später nicht mehr sagen können, wie sie es schaffte, aber plötzlich saß sie in ihrem kleinen Wagen, und die Füße drückten das Gaspedal hinunter und ließen ihn wie eine Rakete auf die Straße hinausschießen.
Sie schaute nicht in den Rückspiegel, sondern starrte nur stur geradeaus, während sie wie gehetzt auf die Fifth Avenue hinausbog und sich in den nächtlichen Verkehr einreihte. Sie war immer noch wie blind und betäubt, aber sie reagierte richtig auf die Verkehrsampeln und fand den Weg zu dem Apartmenthaus, in dem ihre Wohnung lag, mit fast schlafwandlerischer Sicherheit. Sie taumelte aus dem Auto, humpelte über die Straße und in den Vorraum des Hauses. Sie schleppte sich zum Lift, fuhr in den dritten Stock hinauf und fand sogar sofort den Schlüssel in ihrer Jackentasche.
Erst als sie aufschloß, sickerte die Idee in ihr Hirn ein, daß, da der Mörder sich so gut in den ganzen Räumen ausgekannt hatte, er vielleicht aus der Firma stammen konnte, daß er sie möglicherweise kannte -und auch ihre Wohnung finden konnte.
Aber die Schrecken der letzten Stunde waren zuviel gewesen. Sie war nicht mehr fähig, Furcht zu empfinden. Ihre Hand griff am Türrahmen vorbei und fand den Lichtschalter der Flurbeleuchtung, und im nächsten Moment flammte warmes gelbes Licht aüf.
Ruth taumelte in die Wohnung hinein und schloß die Tür hinter sich ab. Sie ging langsam von einem Zimmer ins andere, knipste überall Licht an und zog die Vorhänge vor.
Die Wohnung war leer.
Ruth Ripley stemmte einen Stuhl zusätzlich unter die verriegelte Wohnungstür und ging dann zurück in den großen Wohnraum.
Langsam sank sie auf einen Sessel und begann hemmungslos zu weinen. Erst nach einigen Minuten wurde sie ruhiger. Sie richtete sich auf und sah lange Zeit zum Telefonapparat hinüber, der auf einem kleinen Eckschränkchen
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