0487 - Im Tempel des Drachen
es.«
Wenig später kam es darauf an. Wir alle standen im Kreis. Shao hielt die Armbrust so vor ihren Körper gepreßt, daß die rote Sonne mit den zuckenden Strahlen nach außen wies und wir sie ansehen konnten. Den Köcher mit den Pfeilen hatte sie über ihre Schulter gelegt. Der Köcher befand sich am Rücken. Aus seiner Öffnung schauten die Schäfte der Pfeile hervor.
»Bleibt ruhig!« flüsterte die Chinesin. »Bleibt bitte ruhig. Konzentriert euch. Reinigt euren Geist.«
Die Worte drangen wie Tropfen über ihre Lippen. Sie waren leise gesprochen, wurden aber von jedem von uns verstanden.
Ich behielt die Chinesin im Blick. Obwohl sie aussah wie immer, war sie dennoch eine andere Person geworden. Jemand hatte von ihr Besitz ergriffen, eine fremde Kraft, die sich, zunächst noch unsichtbar, durch ìhren Körper zog.
Das aber änderte sich. So wie sich die Strahlen und der Umriß der aufgemalten Sonne veränderten, nahm auch Shaos Gestalt eine andere Form an. Gleichzeitig bekam sie einen rötlichen, überirdischen Glanz, als hätten die Strahlen der Sonne sie von der Armbrust her umflort. Und das war tatsächlich der Fall. Die Sonne auf der Armbrust war kaum noch zu sehen, dafür aber stand Shao inmitten, des roten Lichts wie ein Fremdkörper.
Sie hob beide Arme und breitete sie aus, als wollte sie einen Strahlenkranz umfassen.
Das geschah auch.
Plötzlich war sie selbst zu einer roten Sonne geworden, zu einem Glutball mit immenser Kraft, aber ohne Hitze.
Und dieser Glutball strahlte auch auf uns über. Es war anders als bei den Zeitreisen, die ich mit Kara und Myxin erlebt hatte. Ich kam mir vor, als würde ich unter den Sonnenstrahlen schmelzen.
Ich spürte keinen Schmerz, dafür eine ungewöhnliche Bedrückung. Auch wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht schreien können, mein Hals saß einfach zu.
Dafür sah ich etwas.
Meine weit aufgerissenen Augen erkannten ein großes, überdimensionales Gesicht, das die Züge einer mir bekannten Frau trug.
Es war Shao, und es war sie doch nicht. Zwei Personen steckten in ihr. Einmal sie selbst und zum anderen Amaterasu, die Sonnengöttin. Sie hatte sich in Shao manifestiert. Sie besaß kein Gesicht, aber ich spürte, daß Amaterasu sich in der Nähe befand.
Ja, sie war da, und sie erfüllte uns. Ich öffnete mich ihr und hatte das Gefühl, in eine Weite zu fallen, für die es den Begriff unendlich gab.
In dem Gesicht aus Shao/Amaterasu lief ein regelrechter Film ab.
Ich sah Länder, Menschen, ich erkannte Dinge, die zusammenschrumpften, Welten und Götter, aber alles huschte vorbei, bis ich die Kälte spürte und den schneidenden Wind, der in mein Gesicht fuhr.
Ich atmete ein, spürte harten Boden unter den Füßen und vernahm fremd klingende Stimmen.
Da wußte ich, daß wir unser Ziel erreicht hatten.
Wir waren in Tibet!
***
Welch eine Reise - welch ein Land!
Es schien mir zu Füßen zu liegen. Die Berge, als gewaltige Mauer aus Fels, Stein, Schnee und Eis, bildeten eine majestätische Kulisse und grüßten aus der Ferne, obwohl sie in der klaren Luft des Hochlandes zum Greifen nahe erschienen.
Der Wind störte mich ebenfalls nicht mehr, ich hatte mich an ihn gewöhnt und sah in die erstaunten Gesichter meiner Begleiter.
Nur Shao entdeckte ich nicht. Hatte sie uns verlassen? Ich fragte Suko danach.
Er nickte mir zu. »Ja, sie wollte nicht, aber sie wird erscheinen, wenn es nötig ist.«
»Kannst du dich denn darauf verlassen?«
»Wir können es, John.«
»Dann ist es okay.«
Yakup deutete nach vorn. Wie gesagt, ich hatte Stimmen gehört, und wir sahen nicht allzu weit entfernt die Menschen inmitten eines kleinen Zeltlagers, wo auch Feuer brannten, deren Flammenarme im von den Bergen fallenden Wind tanzten.
Die Nomaden des Hochlandes hatten uns ebenfalls gesehen. Sie waren aufgeregt und wiesen stets zu uns herüber. Aus einem der Zelte kam ein Mann, der wohl so etwas wie der Anführer war, denn die übrigen Männer und Frauen redeten heftig auf ihn ein.
Er nickte nur und traf Anstalten, auf uns zuzugehen.
»Wir sollten hier nicht warten«, meinte Suko und setzte sich in Bewegung.
Der Mann, der uns entgegenkam, trug einen Mantel aus dünnem Fell. Seine Hosenbeine waren weit geschnitten, die Stiefel sehr weich, aber mit festen Sohlen. Er hatte ein zerknittertes Gesicht, das Haar glänzte fettig.
An den Seiten war es zu Zöpfen gedreht. Das Gesicht bestand aus unzähligen kleinen Falten und Runzeln, zwischen denen die Augen fast
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