049 - Trommeln des Todes
unwirklich. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht von einem endlosen Alptraum umfangen bin.
Später fand ich Lucy mit Jane Wilfrid am Bett Mary Summers.
Mary war bleich. Sie lächelte mir zu. Ich bewunderte dieses hübsche, tapfere junge Mädchen, mit seinen dichten kastanienbraunen Haaren. Ich spürte, daß ihr Ende nahe war.
„Wollen Sie so freundlich sein, Dr. Higgins zu holen?“ bat sie mich. „Ich möchte ihm etwas Wichtiges sagen, bevor ich sterbe. Ich kann es nur ihm sagen.“
Wir anderen sahen uns an. Ich erhob mich. Ich mußte den Wunsch der Sterbenden erfüllen. Ich ging auf das Zelt des Arztes zu. Aber bevor ich es erreichte, machte ich kehrt. Ich hatte nicht den Mut, vor den Mann mit den seltsamen Augen zu treten. Ich lief zu Malcolm, der bei Belfry saß, und teilte ihm Marys Wunsch mit. Er antwortete: „Gut, ich hole ihn. Paßt solange auf Fred und Peter auf, daß sie die große Höhle nicht verlassen.“
Einen Augenblick später kam er mit Higgins zurück. Der Doktor betrat das Zelt. Die anderen ließen ihn mit der Sterbenden allein.
Was hatte Mary Summer ihm so Wichtiges zu sagen? Nicht nur die Natur um uns herum ist rätselhaft, auch die Menschen haben Geheimnisse.
Nach dem Essen bat mich Malcolm, den beiden „Ausgesetzten“ etwas zu essen zu bringen. Am Nachmittag hatte er mir erklärt, in welche Höhle sie sich zurückgezogen hatten. Ich weigerte mich, Malcolms Bitte nachzukommen.
„Warum?“ fragte er wütend.
„Weil ich … ich möchte sie nicht sehen. Nicht heute Abend. Ich bin zu nervös“, antwortete ich schwach.
Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Gut. Dann gehe ich eben.“
In diesem Augenblick pflanzte sich van Broeck vor Theo auf.
„Nun?“ fragte er. „Was haben Sie mit den beiden Spionen gemacht?“
„Sie haben sich irgendwo versteckt“, antwortete Theo. „Ich bringen ihnen zu essen.“
Peter sagte spöttisch: „Zu essen? Ich würde die Hunde vor Hunger krepieren lassen. Haben Sie sie gefesselt?“
„Sie haben nichts zu befürchten.“
„Möglich“, entgegnete Peter frech. Er wurde aggressiver. „Wir haben ein Recht zu wissen, wo sie sind. Sie hindern uns nicht …“
Da verlor Theo zum erstenmal seine Beherrschung. Ehe Peter es sich versah, hatte Malcolm ihm ins Gesicht geschlagen. Er brüllte: „Jetzt habe ich genug! Ich bin es, der hier Befehle gibt. Ich sorge dafür, daß Sie und Whistle in der Höhle bleiben. Und wehe, wenn Sie sie ohne meine Erlaubnis verlassen!“
Peter war fassungslos. Er rang nach Worten.
„Gut, gut, ich habe verstanden. Ich gehe schon“, sagte er schließlich.
Er zog sich in die Höhle zurück.
Whistle saß vollkommen ermattet auf einem Feldbett. Er reagierte überhaupt nicht. Er schien am Ende seiner Kräfte. Auch Belfry hatte sich nicht gerührt.
Theos Wut war verflogen. Er hob die Schultern und lächelte mich gequält an. In diesem Moment trat Lucy ein. Sie war blaß.
„Mary ist gerade gestorben“, teilte sie uns mit.
Fred Whistle sprang von seinem Lager auf.
„Er hat sie getötet“, schrie er, „er hat sie getötet! Das ist sein fünftes Opfer! Wir müssen …“
Bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte Malcolm ihn bei den Schultern gepackt. Er schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht: „Seien Sie still! Werden Sie wohl still sein? Ich habe genug von diesem Wahnsinnsgerede!“
Der kleine zierliche Fred wurde von den Händen des riesenhaften Malcolm wie ein Hampelmann hin und her geschüttelt. Theo warf ihn auf sein Feldbett zurück, wo Whistle wie ein Kind zu weinen anfing.
Jetzt bin ich allein in meinem Zelt. Ich fühle mich einsam und verlassen. Ich schreibe beim Licht meiner Sturmlaterne. Dieses Tagebuch ist meine einzige Beschäftigung geworden. Es bewahrt mich davor, vollends verrückt zu werden.
Theo und John überwachen in der großen Höhle Fred und Peter. Was machen im Augenblick Ridell und Higgins? Schlafen sie? Planen sie Böses? Haben sie auch Angst? Oder schleichen sie im Nebel umher?
Was ist das für ein Geräusch? Schritte? Sie kommen näher. Wer ist es? Was will man von mir? Ich habe Angst.
Es war Lucy. Sie war aufgeregt.
„Ich kann nicht mehr“, sagte sie. „Clara macht mich ganz verrückt. Ich schlafe bei dir, es ist mir egal, was die anderen denken. Bei dir fühle ich mich sicher.“
Ich hielt sie in meinen Armen. Meine eigene Furcht verschwand ein wenig. Lucy hat sich auf Ridells Lager gelegt. Eben schlief sie ein. Auch ich muß jetzt schlafen.
14.
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