0493 - Janes Umkehr
daß sie von diesen Träumen nicht mehr loskam? In der Erinnerung waren sie ungemein stark geworden. Jane empfand sie wie einen bösen Druck, dem sie nicht entweichen konnte. Klar, daß so etwas Spuren hinterließ. Auch Lady Sarah hatte es gemerkt, hatte es einfach merken müssen, doch Jane hatte nicht den Mut gefunden, mit ihr zu sprechen.
Vielleicht am heutigen Abend?
Ja, das wäre vielleicht günstig gewesen. Sarah Goldwyn war eine weise, sehr erfahrene Frau. Sie würde schon einen Rat wissen. Natürlich hätte Jane den Geisterjäger John Sinclair und seine Freunde einschalten können, doch sie wollte die Männer und Frauen nicht auch noch mit ihren Problemen belästigen. Hinzu kam noch, daß sie sich ein wenig schämte, mit John über ihre Sorgen zu reden. Er hatte ihr in der letzten Zeit oft genug geholfen, dies mußte sie allein durchstehen, denn es ging ja auch nur sie allein etwas an.
Vielleicht stand ihr jetzt die letzte große Prüfung bevor, ehe sich alles umkehrte.
Wohin aber? Zum Guten oder zum Bösen? Jane hätte viel darum gegeben, auf diese Frage jetzt schon eine Antwort zu wissen, nur konnte sie die Zeit nicht vordrehen oder verändern.
Sie stand wieder auf. Neben einem Schrank hing der in einen alten Rahmen eingefaßte Spiegel. Er warf Janes Bild zurück. Das Bild einer Frau, die mit sich selbst nicht mehr zufrieden war, obwohl sie der moderne Kurzhaarschnitt jünger machte, wie Jane zugab. Die Sorgen, die sich auf dem Gesicht widerspiegelten, ließen sich auch nicht durch einen Haarschnitt vertreiben, da mußte schon mehr passieren.
Im Haus war es um diese Stunde ruhig. Jane hörte das Ticken der alten Uhr, auch unter dem Dach, wo Sarah Goldwyn eine kleine Videothek besaß und sich die Bücher über magische Literatur zu Hunderten stapelten, stand eine Uhr.
Die Horror-Oma hatte sie erst vor kurzem zusammen mit Jane bei einem Antiquitätenhändler erworben. Als sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß sie und Lady Sarah seit dieser Zeit nicht mehr weggegangen waren.
Es schellte.
Das Geräusch der Klingel zerschnitt Janes trübe Gedankenwelt. Sie erschrak gleichzeitig und überlegte, wer Lady Sarah um diese Zeit einen Besuch abstatten wollte.
Diejenige Person schien es ziemlich eilig zu haben, denn sie schellte abermals.
Jane ging zur Tür. Wohl war ihr dabei nicht. Sie hatte eine gespannte, zögernde Haltung eingenommen, traute sich auch nicht, die Klinke nach unten zu drücken, und warf zunächst einen Blick durch den kleinen Spion. Da war nichts zu sehen, weil sich der Besucher im toten Winkel aufhielt.
»Wer ist da?« fragte Jane.
»Bitte, öffnen Sie! Ich habe eine Nachricht für Miss Collins.« Es war eine Frauenstimme, die gesprochen hatte.
Jane wollte sich nicht als feige ansehen lassen, zog die Tür auf, als sich die Besucherin umdrehte.
Sie war tatsächlich allein gekommen und sah aus - ja, wie sah sie eigentlich aus?
Jane suchte nach einem Vergleich. Die Frau trug ein Kopftuch, das Gesicht wirkte dadurch schmaler. Ihr Alter war schlecht zu schätzen und das Lächeln auf dem Mund nicht echt.
»Wer sind Sie?« fragte Jane, ohne die Frau ins Haus zu lassen.
»Edwina!«
Jane überlegte. »Müßte ich Sie kennen?«
Edwina nickte. »Eigentlich schon, meine Liebe. Oder hast du mich nicht in deinen Träumen gesehen? Vielleicht bin ich es auch gewesen, die dir die Träume geschickt hat?«
»Du?«
»Ja.« Sie lächelte geheimnisvoll, wobei sich ihre Gesichtshaut spannte. »Ich bin etwas Besonderes.«
Jane schaute sie an und nickte. Sie merkte kaum, daß sie sich bereits in Edwinas Bann befand.
Schon jetzt war sie bereit, alles andere in den Hintergrund zu drängen.
»Willst du mich nicht hereinlassen, Jane?«
»Nein, eigentlich hatte ich…« Sie starrte in die Augen ihrer Besucherin und entdeckte nach einer Weile tief in den Pupillen das rote Leuchten, von dessen Anblick sich Jane nicht mehr losreißen konnte.
Der Bann war geschmiedet.
»Natürlich, Edwina. Bitte, komm.«
»Danke sehr.« Sie betrat den Flur, sah sich um. Jane schloß inzwischen die Tür und sah Edwinas Nicken. »Schön hast du es hier nicht, aber anders.«
»Das stimmt.«
»Bist du allein?«
»Klar.«
Edwina rieb ihre Handflächen gegeneinander. Es hörte sich an, als würde Papier rascheln. »Das ist gut, Mädchen, das ist sogar sehr gut.« Sie betrat den Wohnraum. »Hast du ihn hier?« fragte sie, während sie sich umdrehte.
»Was meinst du?«
»Den Brief.« Edwina legte eine Pause ein.
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