0493 - Janes Umkehr
Wind war zu hören, der über ihnen hinwegwehte und erste, dunkle Wolken heranschaufelte.
Die blasse Scheibe eines abnehmenden Mondes war hin und wieder zu sehen. Der Erdtrabant wirkte wie ein einsamer Beobachter, der es nur auf die vier Hexen abgesehen hatte.
»Hier ist es!« sagte die Anführerin und bückte sich. Sie strich mit ihren dünnen, gespreizten Spinnenfingern über die rauhe Oberfläche, als wollte sie diese liebkosen.
»Liegt er darunter?«
»Ja.«
»Wie bekommen wir ihn weg?«
Die Anführerin kicherte. »Ihr sollt nicht zweifeln und nicht fragen. Ihr müßt vertrauen. Vertrauen wir auf unsere Kräfte. Wir sind es, die die Natur beherrschen. Was vor Urzeiten geboren und vererbt wurde, steckt auch in uns.«
»Wollen wir beginnen?«
»Ja, schließ den Kreis. Wir werden den Menschen beweisen, zu was wir Hexen fähig sind.« Die Anführerin breitete abermals ihre Arme aus. Sie bewegte dabei auffordernd die Finger, und ihre drei Artgenossinnen verstanden das Zeichen.
Auch sie breiteten die Arme aus. Die Entfernung zwischen ihnen reichte aus, um sich zu berühren.
Jetzt war der Kreis wieder geschlossen. In der Mitte stand der Stein.
Dunkel, ein Hinweis auf etwas Furchtbares, das unter der alten Erde lag.
»Du bist vergraben, du bist geschändet und gefoltert worden, aber du bist nicht vergessen. Laß die Zeiten vergehen, wir aber werden verstehen. Immer wenn der Hexenmeister seine Dienerinnen rief, kamen sie. So war es, so wird es auch bleiben. Wir sind hier, Hexenmeister. Wir sind gekommen, um dich aus einem unwürdigen Grab zu holen. Du, großer Abandur, sollst wieder über uns herrschen. Die Aufgabe ist uns von Lilith, unser aller Meisterin, übertragen worden. Mit deiner Hilfe wird es uns gelingen. Deshalb sollst du nicht länger unter Maden, Käfern und Würmern begraben liegen. Du sollst das Licht des Mondes genießen, das auf dich wartet. Du wirst die Kraft schöpfen, die wir dir in Liliths Namen geben, und dir wird wieder eine Braut zur Seite stehen, mit der du die schwarze, dämonische Hochzeit feierst, wo wir tanzen werden und dem Teufel huldigen. Die alten Zeiten waren verschüttet, aber vergessen sind sie nicht…«
Die Hexe hatte sehr laut gesprochen. Nicht nur ihre drei Hexenschwestern schienen ihr zugehört zu haben, auch der Wind hatte ihre Stimme vernommen. Er war es, der ihr eine Antwort gab. Ein Stoß wehte in die Senke, umspielte den Stein und tanzte auch in die Gesichter der alten Hexen.
Die Anführerin fuhr fort: »Erinnern wir uns an unsere Kräfte, die so gewaltig sind, daß wir die Natur aus den Angeln heben können. Zeigen wir allen, zu was wir fähig sind. Holen wir den Hexenmeister zurück, meine Schwestern!«
Sie alle wußten, auf was es ankam. Daß sie ihre Gedanken jetzt sammeln und auf einen Punkt konzentrieren mußten. Sie durften keine Fehler begehen und sich ablenken lassen.
Aus der Natur war die Große Mutter entstanden, ihrer aller Königin. Die Natur wurde von ihr beherrscht, und ihre Kräfte gingen über auf die Dienerinnen.
Und so konzentrierten sie sich auf ihre Aufgabe. Aus dem Boden schien die Kraft zu dringen, die in ihre Körper stieg und ihre Köpfe erreichte. In den Augen spiegelte sie sich wider. Sie nahmen einen anderen Ausdruck an.
Die Blässe verschwand. Tief in den Schächten der Pupillen regte sich etwas.
Licht und Leben…
Unheimliches Leben. Kalt und tot, dennoch voller Kraft und Willen steckend.
Münder verzogen sich, Lippen klafften auf, Köpfe wurden nach hinten gedrückt, um den Mond anschauen zu können, dessen kaltes Licht wie ein Schleier auf die Erde fiel.
Die Hexen »tranken« das Licht. Sie liebten es. Der Mond war ein Stück Natur, er galt als Freund schwarzmagischer Gestalten, und er ließ sie auch hier nicht im Stich.
So füllte er mit seinem Licht ihre Augen, während der Wind weiterhin das unheimliche Totenlied sang.
Die Hexen erstarkten. Eine jede von ihnen hatte das Gefühl, fliegen zu können. Die neue Kraft strahlte aus ihren Augen, die einen roten Höllenschein angenommen hatten.
Kalte Blicke waren auf den Stein gerichtet. Natur gegen Natur. Wer war stärker?
Der Stein stemmte sich gegen die geballte Hexenkraft. Er wollte nicht verlieren, doch wer die Natur beherrschte, konnte sie auch vernichten.
Die Hexen dachten nicht an die Zeit, die verging. Sie waren selbst zeitlos und erreichten einen ersten Erfolg, als sie sahen, wie das Gestein anfing, abzubröckeln.
Es war ein leises Knacken und Reißen zu hören.
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