0496 - Das Knochenhaus
Mond noch Sterne schimmerten durch das dichte Grau der Finsternis. Die Gestirne schienen sich zurückgezogen zu haben, als wollten sie den Bösen Tribut zollen.
Der Wald lichtete sich. Zwischen den Bäumen entstanden Lücken, als hätte jemand einen Vorhang einfach aufgerissen.
Wie eine leuchtende Spur teilte der Mittelstreifen die Straße. Wenn Kurven erschienen, drosselte Maya das Tempo. Ein Verkehrsschild an der linken Seite zeigte eine gefährliche Doppelkurve an.
Erst rechts, dann links. Maya mußte noch mehr Gas wegnehmen. Sie schaffte die Kurven, sah die Fahrbahn feucht glänzen und bekam dann eine freie Sicht, denn sie hatte den Wald endlich hinter sich gelassen.
Ihr Blick flog über eine weite Ebene. Bewachsen mit Gras und niedrigem Strauchwerk, mit dem der Wind spielen konnte, wenn er darüber hinwegblies. Die Straße führte links weiter, sie stach nicht in die Ebene hinein, aber es waren dort Wege vorhanden. Maya hörte plötzlich die Stimme ihres Bruders. Da sie sich allein auf der Strecke befand, riskierte sie es und schaltete Fernlicht ein.
Die beiden hellen Strahlen vereinigten sich zu einem kalten Lichtteppich, der nicht nur auf der Straße blieb, sondern auch rechts und links davon einen Teil des Geländes abstrahlte.
Er wischte über das Gras hinweg, ließ die Halme bleich und silbrig schimmernd aussehen. Wenn die Spitzen vom Wind gekämmt wurden, wirkten sie so wie flatterndes Engelshaar.
Maya drehte das Lenkrad nach rechts, als die Einmündung erschien. Sie war im Verhältnis zur Straße ziemlich schmal. Danach folgte ein Pfad, natürlich nicht geteert, übersät mit Schlaglöchern und Bodenwellen, die sich abwechselten.
Die Federung des Polos wurde strapaziert. Das störte die Fahrerin nicht. Sie wußte genau, wo sie zu fahren hatte, und sie verließ sich allein auf die Stimme ihres Bruders.
Noch hielt er sich zurück. Er ließ sie fahren, und sehr bald schon merkte die Frau, daß sich die Beschaffenheit der Fahrbahn änderte. Sie wurde weich, die Räder wühlten sich durch die lehmige Erde, sie hatten es manchmal schwer, und das kleine Gefährt schaukelte hin und wieder wie ein Schiff bei mäßigem Seegang.
Es war ein ehemaliges Sumpfgelände, durch das Maya Mayotte ihren kleinen Wagen lenkte. Darüber dachte sie nicht nach. Sie stellte sich nur vor, daß sie gleich am Ziel sein würde, obwohl sie von dem Haus nichts erkennen konnte.
Eigentlich hätten sich seine Umrisse auch von dem flachen Boden abheben müssen und wären trotz der schlechten Sichtverhältnisse zu erkennen gewesen.
Das geschah nicht.
Der Polo rollte hinein in die flache Landschaft, über der sich der dunkle, wolkenreiche Himmel türmte wie ein alles umspannendes und in Bewegung geratenes Tuch.
Dann aber geschah es.
Vor sich, noch ziemlich weit und nicht einmal im ausufernden Bereich der Scheinwerfer, erkannte sie einen helleren Fleck. Schon jetzt war zu sehen; daß es sich dabei nicht um einen Kreis handelte, sondern um einen kantig wirkenden Gegenstand, wie ein Bild, das in einem Rahmen steckte.
Es mußte das Haus sein!
In die Augen der Frau trat ein anderer Ausdruck. Die Pupillen nahmen einen fiebrigen Glanz an.
Mayas Mundwinkel zuckten, sie atmete scharf durch die Nase und spürte, daß sie anfing zu schwitzen.
In einem großen Linksbogen rollte der Wagen auf das Haus zu. Immer deutlicher war es zu erkennen. Ein großes, helles Gebäude, bestehend aus mehreren Etagen, mit großen Fenstern, mehr hoch als breit, einem Satteldach und einem breiten Vorbau, der den Eingang schützte und durch Säulen gestützt wurde.
Häuser dieser Art hatte man in England wenig gebaut, dafür mehr in den Südstaaten.
Das Haus schimmerte durch die Finsternis der Nacht. Auf Maya wirkte es so, als würde es von innen angestrahlt werden, um den Wänden Leben zu geben.
Aber die Fenster waren dunkel. Sie wirkten wie schwarze, geometrische Löcher innerhalb der hellen Fassade. Ausschnitte, die Angst machen konnten und mehr von der Geschichte des Hauses erzählten, als der gesamte gut sichtbare Bau.
Sehr langsam fuhr Maya Mayotte an ihr Ziel heran. Sie lauschte nach innen und wartete darauf, die Stimme ihres Bruders zu hören, der aber meldete sich nicht.
Dafür sah sie im kalten, glanzlosen Fernlicht einen fast im Wege stehenden Gegenstand auf vier Rädern.
Es war der Mercedes, der Eric gehört hatte. Er stand da, als wäre nichts geschehen.
Neben ihm stoppte Maya den Polo, stieg aus und schaute auf den zweiten Wagen. Als
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