0496 - Das Knochenhaus
sie darüber nachdachte, daß er einmal von einem lebenden Eric gefahren worden war, stieg es wieder in ihr hoch und setzte sich heiß in ihrer Kehle fest.
Sie hatte Mühe, überhaupt Atem zu holen. Über ihren Rücken lief ein Schauer, das Herz schlug schneller, der Wind o wehte ihre Haare hoch, als wollte er sie in die Lüfte ziehen.
Bis zum Ziel waren es nicht mehr als zwanzig Schritte. Zum erstenmal sah Maya das Haus aus dieser unmittelbaren Nähe. Es wurde ihr bewußt, wie groß es eigentlich war.
In seinem Innern mußten sich zahlreiche Zimmer befinden. Leere Räume, dennoch erfüllt vom Atem des Bösen, der sich in dem Gebäude eingenistet hatte.
Maya traute sich nicht, das Haus zu betreten. Sie wollte erst das Gelände absuchen. Das beinhaltete bei ihr einen Rundgang um das Haus. Vielleicht entdeckte sie an der Außenseite etwas, das später für sie wichtig werden konnte.
Maya ging nicht sehr schnell. Unter ihren Füßen knickte das hohe Sumpfgras. Der Boden war sehr feucht, ein Paradies für Vögel. Inmitten der Nacht aber war keines dieser Tiere zu entdecken. Sie hielten sich wohlweislich zurück.
Spürten sie das Unheimliche, das von diesem hellen Gebäude ausging? Den Wald sah Maya nur als Schatten, wenn sie sich umdrehte. Vor ihr lag allein das flache, ehemalige Sumpfland.
Das Haus lockte und stieß sie gleichzeitig ab. Die widersprüchlichsten Gefühle tobten in ihr. Sie spürte einen Schauder auf dem Rücken, sie setzte ihre Schritte sehr vorsichtig und traute sich nicht einmal, die Fassade zu berühren.
Maya erinnerte sich daran, als sie das Haus zum ersten Mal sah. Innerhalb des Feuerscheins war es erschienen, und es hatte auf einem gewaltigen Totenschädel gestanden. Den suchte sie jetzt, richtete ihre Blicke deshalb mehr dem Erdboden zu, aber sie fand keine Spur von diesem Schädel.
Nicht der geringste Hinweis auf seine Existenz war zu entdecken. Wenn es den Schädel tatsächlich gab, dann mußte er sich in der Tiefe des Bodens befinden.
Doch wann hob er sich hervor?
Maya ging weiter. Das unangenehme Gefühl blieb, und es verstärkte sich noch, als sie die Frontseite des Gebäudes erreichte. Dicht vor dem Vorbau verhielt sie ihren Schritt. Der Blick fiel auf die Eingangstür. Sie war verschlossen. In halber Höhe sah sie auf der rechten Seite das Schloß mit seinem dunklen Rahmen.
Auch die Gehfläche des Vorbaus bestand aus Holzbalken. Sie lagen dicht nebeneinander. Lücken, durch die hätte Gras wachsen können, waren nicht vorhanden.
Niemand lauerte ihr auf, niemand schlich um sie herum, dennoch spürte sie die Gefahr.
Und sie vernahm Erics Stimme. »Jetzt mußt du gehen. Zögere nicht länger. Du kannst das Haus betreten…«
Die Stimme wehte nicht stärker als ein Hauch durch ihr Gehirn. Aber sie hatte den Befehl verstanden und zögerte keine Sekunde mehr, die vordere Veranda zu betreten.
Den rechten Fuß setzte sie auf die Bohlen. Sie gaben etwas nach. Im Laufe der Zeit waren sie weich geworden und hatten sich auch mit Feuchtigkeit vollgesaugt.
Maya brach nicht ein, machte sich trotzdem leicht und verlagerte ihr Gewicht mehr auf die Zehenspitzen.
Vor der Tür blieb sie stehen. Es war für sie ein schwerer Entschluß, den Eingang zu öffnen. Wenn sie das Haus einmal betreten hatte, konnte es sein, daß es auch zu einem Grab für sie wurde.
Ein riesiges Grab mit vielen Etagen. Wie auch für ihren Bruder Eric.
Aber sie hatten den Eltern versprochen, zusammenzuhalten und zusammenzubleiben. Es blieb ihr einfach nichts anderes übrig, als sich zu überwinden.
Kalt fühlte sich die metallene Klinke an, als Maya sie nach unten drückte. Auch auf ihrem Rücken lag eine ungewöhnliche Kälte, die ebenfalls vom Körper Besitz ergriffen hatte und wie mit klammen Fingern ihre Seele umspannte.
Das leise Knarren kam ihr vor wie ein nur mühsam unterdrückter Willkommensgruß aus einer unheimlichen Tiefe, wo Monstren und lebende Tote lauerten.
Die Gänsehaut auf ihrem Rücken nahm zu und manifestierte sich. Mit sehr behutsamen Schritten betrat sie das Haus, schaute sich schon beim ersten um, ob sie irgend etwas entdeckte, das nicht zwischen die Wände paßte, aber sie sah nichts.
Leise schloß die Tür.
Jetzt war sie eine Gefangene. Maya bekam den Eindruck, als würde sie das Haus freiwillig nicht mehr verlassen können, und sie fragte sich plötzlich, was sie hier suchte, obwohl ihr Bruder tot war und sie ihn nicht mehr retten konnte.
Vielleicht suchte sie gerade ihn, den Toten.
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