05 - Denn bitter ist der Tod
gebrauchen.«
»Absurd«, meinte Lynley.
»Unserer Meinung nach, gewiß. Aber Elenas Eltern wollten ihrer Tochter, wie gesagt, die Chance geben, in der Welt der Hörenden ihren Weg zu machen. Man kann sicher darüber streiten, ob ihre Methode die richtige war, aber es ändert nichts daran, daß Elena am Ende alle drei beherrschte. Sie konnte von den Lippen ablesen, sie konnte sprechen und sich mit Hilfe der Gebärdensprache verständlich machen.«
»Aber in welcher Welt fühlte sie sich zu Hause?«
»Tja«, sagte Cuff, während er mit einem Schürhaken im Feuer herumstocherte, »Sie verstehen sicher, daß wir unter diesen Umständen bereit waren, in Elena Weavers Fall gewisse Zugeständnisse zu machen. Sie war zwischen zwei Welten hin- und hergerissen und fühlte sich, wie Sie richtig bemerkten, in keiner wirklich zu Hause. Es war das Ergebnis ihrer Erziehung.«
»Hm. Was ist Weaver für ein Mensch?«
»Ein brillanter Historiker. Hochintelligent. Engagiert. Beruflich absolut integer.«
Eine ausweichende Antwort, wie Lynley vermerkte. »Wie ich hörte, steht er vor einer bedeutenden Beförderung?«
»Sie meinen, die Berufung auf den Penford-Lehrstuhl? Ja, man hat ihn für diesen Posten vorgeschlagen.«
»Und was ist der Penford-Lehrstuhl genau?«
»Es ist der bedeutendste Lehrstuhl für Geschichte an dieser Universität.«
»Ein Renommierposten?«
»Mehr. Eine Stellung, die dem Dozenten erlaubt, sich ausschließlich den Dingen zu widmen, die ihn wirklich interessieren. Er kann lesen oder schreiben, Doktoranden betreuen, ganz wie er will. Er genießt uneingeschränkte akademische Freiheiten und kann nationaler Anerkennung und der Wertschätzung seiner Kollegen gewiß sein. Wenn Weaver berufen werden sollte, wird das der größte Augenblick in seinem beruflichen Werdegang sein.«
»Hätten die ungenügenden Leistungen seiner Tochter hier an der Universität seine Chancen auf eine Berufung beeinträchtigt?«
Cuff tat die Frage mit einem Achselzucken ab. »Ich gehöre nicht zum Wahlausschuß, Inspector. Der Ausschuß beschäftigt sich schon seit dem letzten Dezember mit den verschiedenen Kandidaten. Ich kann Ihnen nicht sagen, worauf es bei der Berufung im einzelnen ankommt.«
»Aber könnte Weaver geglaubt haben, daß der Ausschuß ihn wegen der Probleme seiner Tochter negativ beurteilen würde?«
Cuff stellte den Schürhaken wieder an seinen Platz und strich mit dem Daumen über den matt glänzenden Messinggriff. »Ich habe es immer für das klügste gehalten, mich möglichst wenig für das Privatleben und die persönlichen Überzeugungen der Dozenten zu interessieren«, antwortete er. »Ich fürchte daher, daß ich Ihnen in dieser Hinsicht wenig helfen kann.«
Erst nachdem er zu Ende gesprochen hatte, blickte Cuff auf, und wieder erkannte Lynley deutlich die Abneigung, Informationen irgendwelcher Art weiterzugeben.
»Sie werden sicher wissen wollen, wo wir Sie untergebracht haben«, sagte Cuff höflich. »Ich werde gleich dem Pförtner läuten.«
Es war kurz nach sieben, als Lynley bei Anthony Weaver in der Adams Road läutete. Das Haus war nicht allzu weit vom St. Stephen's College entfernt, so daß er zu Fuß gekommen war; über die moderne Beton- und Stahlkonstruktion der Garret Hostel Brücke, dann unter nahezu kahlen Kastanien hindurch den Burrell's Walk entlang, der in feuchten gelben Blättern schwamm. Ab und zu überholte ihn ein dick vermummter Radfahrer, dann leuchteten die Katzenaugen an den Rädern im Licht der weit auseinanderstehenden Laternen auf, sonst jedoch war der Fußweg, der die Queen's Road mit der Grange Road verband, dunkel und leer. Stechpalmen- und Buchsbaumhecken - unterbrochen von Zäunen und Mauern - begrenzten ihn, und jenseits erhob sich der massige, rostrote Bau der Universitätsbibliothek, in die um diese Stunde nur noch vereinzelte Gestalten hineinhuschten.
Die Häuser in der Adams Road standen alle hinter Hecken, zurückgesetzt von der Straße. Bäume überschatteten sie, nackte Silberbirken, deren Geäst sich wie schwarzes Filigran aus dem Nebel hob, Pappeln, deren Borken in allen vorstellbaren Grautönen schimmerten, Erlen, die dem nahenden Winter ihr Laub noch nicht geopfert hatten. Es war ruhig hier. Nur das Glucksen des Wassers, das durch ein freiliegendes Abflußrohr lief, durchbrach die Stille. Der Duft nach brennenden Kaminfeuern hing freundlich in der Nachtluft, doch als Lynley vor dem Haus der Familie Weaver wartete, nahm er nichts wahr als den Geruch der
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