05 - Denn bitter ist der Tod
jetzt schlafen.«
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»Es war von Anfang an klar, daß Elena Weaver das Zeug hatte, Hervorragendes zu leisten«, sagte Terence Cuff zu Lynley. »Aber das sagen wir wohl von den meisten Studienanfängern. Was hätten sie hier zu suchen, wenn sie nicht die Fähigkeiten für hervorragende Leistungen in ihren Fächern besäßen?«
»Was war denn ihr Fach?«
»Englisch.«
Cuff schenkte zwei Gläser Sherry ein und reichte Lynley eines. Mit einer kurzen Geste wies er zu der Sitzgruppe rechts vom offenen Kamin, einem Prunkstück spätelisabethanischer Architektur mit Marmorkaryatiden, korinthischen Säulen und dem Wappen des Collegegründers, Lord Brasdown, verziert.
Vor seinem Besuch beim Rektor hatte Lynley einen Abendspaziergang durch die sieben Höfe gemacht, die den westlichen Teil des St. Stephen's College bildeten, und im Garten, der eine Terrasse mit Blick auf den Cam hatte, eine kleine Ruhepause eingelegt. Er war ein Architekturliebhaber. Die Betrachtung der stilistischen Besonderheiten und Launen, die jede Epoche hervorgebracht hatte, bereitete ihm immer wieder Vergnügen. Cambridge war, das hatte er schon oft festgestellt, reich an architektonischen Kapricen - der Brunnen im Great Court des Trinity College oder die Mathematical Bridge des Queen's College -, doch das St. Stephen's College verdiente, wie er entdeckt hatte, besondere Aufmerksamkeit. Fünf Jahrhunderte Baukultur waren hier vereint. Vom Principal Court aus dem sechzehnten Jahrhundert mit seinen Klinkerbauten bis zum dreieckigen North Court des zwanzigsten Jahrhunderts. Das St. Stephen's war eines der größten Colleges der Universität, begrenzt auf der Nordseite vom Trinity College, im Süden von der Trinity Hall und von der Trinity Lane in Ost- und Westteil getrennt. Nur der Fluß, der seine westliche Begrenzung bildete, gewährte eine gewisse Öffnung nach außen.
Das Haus des Rektors stand am Südwestende des Geländes mit Blick auf den Cam. Es war im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden, Klinker mit konstrastierenden hellen Ecksteinen, eine glückliche Kombination klassischer und gotischer Details. Die vollkommene Ausgewogenheit bezeugte den Einfluß des klassischen Ideals. Zwei Erkerfenster wölbten sich zu beiden Seiten der Haustür, während aus dem schrägen Schieferdach eine Reihe Mansardenfenster mit halbrunden Ziergiebeln hervorsprang. Eine späte Liebe zur Gotik offenbarte sich in der zinnenartigen Ornamentierung des Dachs, im Spitzbogen über der Haustür und im Fächergewölbe der Decke in der Vorhalle. In diesem Haus war Lynley mit Terence Cuff verabredet, dem Rektor des St.
Stephen's, der wie Lynley selbst einst am Exeter College in Oxford studiert hatte.
Lynley konnte sich nicht erinnern, während seiner Zeit in Oxford von Cuff gehört zu haben, aber da der Mann gut zwanzig Jahre älter war als er, durfte man keinesfalls den Schluß daraus ziehen, daß Cuff sich in Oxford nicht besonders hervorgetan hatte. An Selbstbewußtsein jedenfalls schien es ihm nicht zu fehlen. Es war klar, daß er, auch wenn ihm der gewaltsame Tod einer seiner Studentinnen naheging, vielleicht sogar persönlich naheging, Elena Weavers Tod nicht als Anzeichen für Inkompetenz als Leiter des Colleges betrachtete.
»Ich bin froh, daß der Vizekanzler damit einverstanden war, Scotland Yard zuzuziehen«, sagte Cuff, nachdem er sich in einem der Polstersessel niedergelassen hatte. »Es ist natürlich eine Hilfe, daß wir Miranda Webberly hier am St. Stephen's haben. Da konnten wir dem Vizekanzler gleich den Namen ihres Vaters nennen.«
»Wenn ich Webberly recht verstanden habe, war man hier etwas besorgt wegen der Art und Weise, wie die zuständige Polizei im letzten Frühjahr einen Fall behandelt hat.«
Cuff stützte den Kopf in die offene Hand. Er trug keine Ringe. Sein Haar war voll und aschgrau. »Ja. Es war eindeutig Selbstmord. Aber irgend jemand von der Polizei deutete der Lokalpresse an, es sähe ihm sehr nach einem vertuschten Mord aus. Sie kennen so etwas, nehme ich an; eine Unterstellung, daß die Universität bestrebt ist, ihre eigenen Leute zu decken. Mit aktiver Unterstützung der Lokalpresse entwickelte sich die Sache zu einem häßlichen kleinen Skandal. Wir möchten nicht, daß so etwas noch einmal passiert.«
»Aber soviel ich weiß, wurde das Mädchen doch gar nicht auf dem Universitätsgelände getötet. Es ist also anzunehmen, daß jemand aus der Stadt das Verbrechen verübt hat. Und wenn das zutrifft, sind Sie auf dem besten Weg,
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