05 - Denn bitter ist der Tod
nicht sagen. Er ist ein hervorragender Wissenschaftler. Das an sich wäre für uns natürlich Grund genug gewesen, eine Aufnahme seiner Tochter ernsthaft zu erwägen. Aber sie war darüber hinaus, wie ich schon sagte, eine intelligente junge Frau. Gute Schulnoten, gute Aufnahmeprüfung, das Gespräch mit ihr war - alles in allem - mehr als befriedigend. Und es war durchaus verständlich, daß sie das Leben in Cambridge zunächst überwältigend fand.«
»Und als dann das rote Licht aufleuchtete...?«
»Da habe ich mich mit ihrem Tutor und ihren Dozenten zusammengesetzt, um einen Aktionsplan auszuarbeiten. Es war im Grund ein ganz einfacher Plan. Er sah vor, daß sie regelmäßig ihre Vorlesungen und Seminare zu besuchen hatte, sich den Besuch der Übungsstunden schriftlich bestätigen ließ und engeren Kontakt zu ihrem Vater hielt, damit der ebenfalls ihre Fortschritte überwachen konnte. Von da an verbrachte sie häufig die Wochenenden bei ihm.« Er machte ein leicht verlegenes Gesicht, als er weitersprach. »Ihr Vater hielt es für hilfreich, ihr zu erlauben, in ihrem Zimmer ein kleines Tier zu halten, eine Maus, genauer gesagt. Er hoffte, sie würde sich für das Tier verantwortlich fühlen und die Nächte nicht außerhalb verbringen. Sie war anscheinend sehr tierlieb. Schließlich zogen wir noch einen jungen Mann vom Queen's College zu, einen Jungen namens Gareth Randolph. Er sollte die Rolle des Studentenbetreuers übernehmen und sie, das war uns noch wichtiger, in eine passende Vereinigung einführen. Letzteres war ihrem Vater gar nicht recht. Er war von Anfang an absolut dagegen.«
»Wegen des Jungen?« fragte Lynley.
»Wegen der Vereinigung. Sie heißt VGS. Gareth Randolph ist ihr Präsident. Und er ist einer der besten behinderten Studenten an der Universität.«
Lynley runzelte die Stirn. »Das hört sich an, als hätte Weaver gefürchtet, seine Tochter könnte eine Liebesbeziehung zu einem behinderten jungen Mann anfangen.« Hier lag in der Tat Sprengstoff.
»Das kann gut sein«, meinte Cuff. »Aber meiner Meinung nach wäre eine Beziehung zu Gareth Randolph nur gut für sie gewesen.«
»Wieso?«
»Aus naheliegendem Grund. Elena war auch behindert.« Als Lynley darauf nichts sagte, sah Cuff ihn verwirrt an.» Das haben Sie doch gewußt. Das hat man Ihnen doch gesagt.«
»Nein. Das hat mir niemand gesagt.«
Terence Cuff beugte sich vor. »Verzeihen Sie vielmals. Ich dachte, man hätte Sie unterrichtet. Elena Weaver war taub.«
VGS, erklärte Terence Cuff, war die Abkürzung für die Vereinigung Gehörloser Studenten an der Universität Cambridge, einer Gruppe, die sich einmal wöchentlich in einem kleinen Konferenzraum im Souterrain der Peterhouse Bibliothek am Ende der Little St. Mary's Lane traf. Sie war Anlaufstelle für die nicht unbeträchtliche Zahl gehörloser Studenten an der Universität. Darüber hinaus verfocht sie den Gedanken, daß Gehörlosigkeit weniger eine Behinderung sei als eine eigene Kultur.
»Die Gruppe ist sehr stolz«, erklärte Cuff. »Sie hat enorm viel dafür getan, das Selbstbewußtsein der gehörlosen Studenten zu fördern. Sie weist immer wieder daraufhin, daß es keine Schande ist, sich der Gebärdensprache zu bedienen, wenn man nicht sprechen kann; und daß es ebensowenig eine Schande ist, nicht von den Lippen ablesen zu können.«
»Und trotzdem, sagen Sie, wollte Anthony Weaver seine Tochter dieser Gruppe fernhalten. Wenn sie selbst gehörlos war, war das doch eigentlich unvernünftig.«
Cuff stand aus seinem Sessel auf und ging zum Kamin, um Feuer zu machen. Es war kühl geworden im Zimmer, und seine Reaktion war verständlich, dennoch wirkte sie wie ein Ausweichmanöver. Als das Feuer brannte, blieb er am Kamin stehen, schob die Hände in die Hosentaschen und senkte den Blick auf seine Schuhspitzen.
»Elena konnte von den Lippen ablesen«, erklärte er. »Sie hat auch recht gut gesprochen. Ihre Eltern - vor allem ihre Mutter - wollten ihr unbedingt die Chance geben, wie ein normaler Mensch in einer normalen Welt zu leben. Keiner sollte merken, daß sie gehörlos war. Die VGS betrachteten sie als Rückschritt.«
»Aber Elena hat sich doch der Gebärdensprache bedient, oder nicht?«
»Ja, aber sie hatte damit erst als Teenager angefangen. Ihre Schule wandte sich damals an den Sozialdienst, weil ihre Mutter nicht zu bewegen war, sie an einem Kurs für die Gebärdensprache teilnehmen zu lassen. Und selbst dann durfte sie zu Hause die Zeichen nicht
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