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05 - Denn bitter ist der Tod

05 - Denn bitter ist der Tod

Titel: 05 - Denn bitter ist der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Dort befanden sich die Gräber, vom gelben Licht der Bodenlampen beleuchtet, die ihren Schein an die Mauern der Kirche warfen. Der Nebel war in der Zeit, als er bei Miranda gewesen war, noch dichter geworden und verwandelte Sarkophage, Grabsteine, Grüften, Büsche und Bäume in farblose Schemen vor einem Hintergrund sachte wogenden Dunsts. Am schmiedeeisernen Zaun, der den St. Stephen's Court vom Friedhof trennte, standen mit feuchtglänzenden Lenkern vielleicht hundert oder mehr Fahrräder.
    An ihnen vorüber ging Lynley zum Ivy Court, wo der Pförtner ihm früher am Tag sein Zimmer gezeigt hatte. Die Räume in diesem Gebäude - Arbeits- und Besprechungszimmer, Küchen und kleinere Ruhezimmer, in denen man bei Bedarf ein Nickerchen machen konnte - wurden, wie der Pförtner ihm erklärte, nur von den Dozenten des College benutzt. Da die meisten von ihnen außerhalb des College wohnten, war das Gebäude nachts praktisch leer.
    Lynleys Zimmer blickte in den Ivy Court und zum Kirchhof hinunter. Es, war mit seinen braunen Teppichfliesen, den fleckigen, vergilbten Wänden und verblaßten Blümchenvorhängen nicht besonders freundlich. Man rechnete am College offensichtlich nicht damit, daß Besucher sich hier für einen längeren Aufenthalt einrichten würden.
    Nachdem der Pförtner ihn alleingelassen hatte, hatte Lynley sich nachdenklich umgesehen, hatte sich probeweise in den muffig riechenden Ohrensessel gesetzt, eine Schublade aufgezogen, das leere Bücherregal an der Wand betrachtet. Er ließ Wasser ins Becken laufen und prüfte die Tragfähigkeit der Kleiderstange im Schrank. Und dachte dabei die ganze Zeit an Oxford.
    Ein anderes Zimmer, eine ähnliche Stimmung; ein Gefühl, als tue die ganze Welt sich vor ihm auf und winke ihm mit der Offenbarung ihrer Geheimnisse und kommender Erfüllung. Wie neugeboren hatte er sich in der relativen Anonymität gefühlt. Leere Regale, leere Wände, leere Schubladen. Hier, hatte er gedacht, würde er sich selbst einen Namen machen. Niemand brauchte von seinem Titel und seiner Herkunft zu wissen, niemand von seiner lachhaften Angst. Das geheime Leben der Eltern hatte in Oxford keinen Platz. Hier, hatte er gedacht, würde er vor der Vergangenheit sicher sein.
    Er mußte lächeln, als er daran dachte, wie hartnäckig er an diesem letzten Jugendglauben festgehalten hatte. Er hatte sich allen Ernstes auf dem Weg in eine goldene Zukunft gesehen, die keinerlei Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verlangte. So versuchen wir, unserer persönlichen Situation zu entfliehen, dachte er. Wir alle.
    Er brauchte keine fünf Minuten, um seine Koffer auszupacken. Als er sich danach in den Sessel setzte, spürte er die Kälte des Zimmers und seine innere Ruhelosigkeit. Um sich abzulenken, begann er den Tagesbericht zu schreiben. Normalerweise war das Barbara Havers' Aufgabe, aber er war in diesem Moment froh, etwas zu tun zu haben, was die Gedanken an Helen zurückdrängen würde, wenn auch vielleicht nur für eine Stunde.
    »Ein Anruf, ja, Sir«, hatte der Pförtner gesagt, als er im Häuschen nachgefragt hatte.
    Sie hat angerufen, dachte Lynley. Harry ist nach Hause gekommen. Und sogleich hatte seine Stimmung sich aufgehellt, nur um sich augenblicklich wieder zu verdüstern, als der Pförtner ihm die Nachricht überreichte. Superintendent Daniel Sheehan von der Polizei Cambridge erwartete ihn am kommenden Morgen um halb neun.
    Keine Nachricht von Helen.
    Er schrieb flüssig, fast ohne Pause und füllte Seite um Seite mit den Einzelheiten seines Zusammentreffens mit Terence
    Cuff, mit den Eindrücken, die er aus dem Gespräch mit Anthony und Justine Weaver gewonnen hatte, einer Beschreibung des Schreibtelefons und seiner Möglichkeit, den Tatsachen, die Miranda Webberly ihm geliefert hatte. Er schrieb weit mehr als notwendig, teilweise im Stil freier Assoziation, worüber Havers mit Recht die Nase rümpfen würde, was ihn aber zwang, sich ganz auf den Mordfall zu konzentrieren und nicht in Gedankengänge abzuschweifen, die seine Frustration nur verstärkt hätten. Nach einer Stunde legte er den Füller aus der Hand, nahm seine Brille ab und dachte augenblicklich an Helen.
    Viel länger konnte er diesen Zustand der Ungewißheit nicht mehr ertragen. Sie hatte sich Zeit ausbedungen. Er hatte sie ihr gegeben, Monat um Monat, in der Angst, ein falscher Schritt von ihm würde sie für immer von ihm forttreiben. Er hatte sich nach Kräften bemüht, wieder der zu werden, der er einst für sie

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