05 - Denn bitter ist der Tod
noch als Ehepaar angesehen. So war es einfacher, mit ihnen zu sprechen.
Sie hatten ihr nicht geglaubt. Das hatte sie ihnen angesehen. Und wer konnte es ihnen verübeln? Warum im tiefsten Nebel über das Moor laufen, anstatt den Weg zu nehmen, den sie gekommen war? Warum anstatt den Wagen zu nehmen, zu Fuß zur Polizei zu sprinten? Es war unsinnig. Das wußte sie sehr wohl. Und die beiden wußten es auch.
Kein Wunder, daß der Bentley immer noch vor dem Haus stand. Die Polizeibeamten selbst waren nicht zu sehen. Sie fragten wahrscheinlich bei den Nachbarn nach, um ihre Aussage zu verifizieren.
Denke nicht daran, Sarah.
Sie zwang sich, vom Fenster wegzugehen, kehrte in ihr Atelier zurück. Auf einem Tisch nahe der Tür stand der Anrufbeantworter. Sie starrte einen Moment verwundert auf das blinkende Gerät, ehe ihr einfiel, daß sie das Telefon hatte läuten hören, während sie mit den Polizeibeamten gesprochen hatte. Sie drückte auf den Knopf, um das Band abzuspielen.
»Sarah, Liebste. Ich muß dich sehen. Ich weiß, daß ich kein Recht habe, das zu verlangen. Du hast mir nicht verziehen. Ich verdiene keine Verzeihung. Aber ich muß dich sehen. Ich muß mit dir sprechen. Du bist die einzige, die mich ganz kennt, die mich versteht, die Mitgefühl und Zärtlichkeit -« Er begann zu weinen. »Ich habe Sonntag abend fast den ganzen Abend vor deinem Haus gestanden. Im Auto. Ich konnte dich durch das Fenster sehen. Und - ich war am Montag da, aber ich hatte nicht den Mut, an die Tür zu gehen. Und jetzt... Sarah, bitte! Elena ist ermordet worden. Bitte. Ruf mich im College an. Hinterlaß eine Nachricht. Ich tue alles, was du willst. Nur laß mich dich sehen. Ich bitte dich. Ich brauche dich, Sarah.«
Sie lauschte wie betäubt. Fühl doch etwas, befahl sie sich. Aber nichts rührte sich in ihrem Herzen. Sie drückte den Handrücken an ihren Mund und biß fest hinein. Dann noch einmal und ein drittes und viertes Mal, bis sie anstatt Seife und Hautcreme den leicht salzigen Geschmack ihres Bluts auf der Zunge hatte. Sie preßte Erinnerung aus sich heraus. Irgend etwas, ganz gleich, was. Es spielte keine Rolle was. Es mußte nur etwas sein, das sie mit Gedanken beschäftigte, die sie aushaken konnte.
Douglas Hampson, ihr Pflegebruder, siebzehn Jahre alt. Von dem sie bemerkt werden wollte; begehrt werden wollte; den sie selbst begehrte. Der muffige Schuppen hinten im Garten seiner Eltern in King's Lynn. Nicht einmal der Geruch des Meeres konnte den Gestank nach Kompost und Dung verdrängen. Aber ihnen war das gleich gewesen. Sie hatte die Aufmerksamkeit und Zuwendung eines anderen Menschen gewollt; er war ganz scharf darauf gewesen, es zu tun, weil er siebzehn war und voller Begierde und weil er bis in alle Ewigkeit gehänselt werden würde, wenn er diesmal wieder aus den Ferien ins Internat zurückkehrte, ohne vor seinen Kameraden mit einer heißen Nummer prahlen zu können.
Sie hatten sich einen Tag ausgesucht, an dem die Sonne glühend heiß auf die Straßen brannte und besonders auf das alte Blechdach des Geräteschuppens. Er hatte sie geküßt und ihr die Zunge in den Mund geschoben, und während sie sich fragte, ob es das war, was die Leute meinten, wenn sie sagten, zwei »trieben es miteinander« - sie war erst zwölf und hatte keine Ahnung -, kämpfte er erst mit ihren Shorts und dann mit ihrem Schlüpfer, und die ganze Zeit japste er wie ein Hund bei der Hetzjagd.
Es war schnell vorbei gewesen, und sie hatte nichts davon als Blut und Schmerz.
Douglas stand hinterher sofort auf, säuberte sich an ihren Shorts und warf sie ihr dann wieder zu. Während er den Reißverschluß seiner Jeans zuzog, sagte er: »Hier riecht's wie auf dem Klo. Ich muß raus.« Und schon war er weg.
Er antwortete nicht auf ihre Briefe. Er schwieg sich aus, als sie ihn im Internat anrief und ihm weinend ihre Liebe erklärte. Natürlich hatte sie ihn überhaupt nicht geliebt. Aber sie hatte glauben müssen, sie liebte ihn. Eine andere Entschuldigung gab es nicht dafür, daß sie diese gefühllose, gleichgültige Eroberung ihres Körpers ohne Protest zugelassen hatte.
Heute begehrte er sie. Vierundvierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren verheiratet, Versicherungsangestellter auf dem besten Weg in die Midlifecrisis - heute begehrte er sie.
Nun komm schon, Sarah, pflegte er zu sagen, wenn sie sich zum Mittagessen trafen, wie sie das häufig taten. Ich kann dir nicht gegenüber sitzen und so tun, als interessierst du mich nicht. Komm schon.
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