05 - Der Conquistador
Reise klar zu sein. Und dass sie fast einen Mond lang gedauert hatte, wies darauf hin, dass Ah Ahaual den Himmelsstein wirklich gut und weit entfernt versteckt hatte. Vielleicht sogar am Ende der Welt, dachte Ts’onot mit einem wehmütigen Gefühl in der Brust.
Er schloss tief bewegt ob der Weitsicht seines Vaters die Augen und ließ sein Bild vor seinem inneren Auge erstehen. Ein Bild aus guten Tagen.
Doch aus dieser Erinnerung und einem eher scherzhaften Gedanken heraus entwickelte sich eine machtvolle Vision.
Das Lomob erwachte, und Ts’onot gewann einen Eindruck davon, wie Ah Ahaual den Himmelsstein aus dem ersten Versteck holte … und in ein anderes brachte. Es beeindruckte ihn zutiefst, welchen Einfallsreichtum sein Vater dabei an den Tag legte, und wie er sich bei den Göttern rückversicherte, auch das Richtige zu tun. Noch immer zog er in Betracht, dass hinter all dem auch ein Plan der wahren Götter stehen könnte, den er als Mensch nur nicht durchschauen konnte.
Jemand räusperte sich und die Vision endete. Als Ts’onot aufsah, entdeckte er Diegodelanda auf der anderen Seite des Grabes. Er hielt etwas in der Hand.
»Sag, wenn ich störe.«
»Jeder andere täte das vielleicht – du gewiss nie.« Ts’onot meinte jedes einzelne Wort so, wie er es sagte. »Was hast du da?«
»Ein Buch.«
»Ein … Buch ? Was macht man damit?«
»Es wird mit Schrift gefüllt, die jeder Kundige lesen kann. So wie eure Wandbilder in Stein gehauen werden, schreibt man Lettern in ein Buch. Dieses hier muss einem meiner Landsleute gehört haben, der es auf der Flucht verlor. Vielleicht ist er entkommen, oder im Kampf gefallen.«
»Was hat es dir gesagt, dieses … Buch?«
Diegodelanda zuckte mit den Schultern. »Ein gewisser Francisco Hernández de Córdoba berichtet darin, wie er von einer überirdisch leuchtenden Gestalt aufgesucht und dazu überredet wurde, sich in deren Dienste zu stellen. Ihm wurde Unsterblichkeit in Aussicht gestellt, wenn es ihm gelänge, eine ominöse ›Maschine‹ – genauer: deren Teile – zu finden, zu bergen und für ihn zusammenzusetzen … Das dürfte dir bekannt vorkommen.«
»Der falsche Gott.« Ts’onot schauderte. »Er mag ein Betrüger gewesen sein, aber er verfügte über sehr viel Macht.«
»Er hat sie immer noch. Ich glaube nicht, dass er für alle Zeiten verschwunden bleibt.« Diegodelanda trat näher und reichte Ts’onot das Buch.
Der Chilam blätterte darin, konnte aber nichts damit anfangen. »Behalte es«, sagte er. »Es gehört dir. Mach damit, was dir beliebt.«
Und so geschah es.
***
Gesang aus einem Dutzend Kehlen hallte durch das Gemäuer. Pauahtun leitete die Zusammenkunft in der uralten Tradition ihres Bundes, dessen Anfänge weit in die Vergangenheit zurück reichten.
Die Loge der Sucher war ein generationenübergreifendes Konstrukt. Mitglieder kamen und gingen, nur die Aufgabe war über all die Zeit gleich geblieben: das Artefakt aufzuspüren, den »Himmelsstein«! Den letzten Baustein der Maschine.
Doch daran versuchte Pauahtun in dieser Stunde nicht zu denken. Stattdessen überlegte er, wie oft seit seinem Eintritt in die Loge er einem Begräbnis beigewohnt hatte, das den außergewöhnlichen Status des Verstorbenen ein letztes Mal betonte.
Niemand sonst auf der Welt wurde auf diese Weise bestattet. Niemandem sonst war es vergönnt, nicht nur mit seiner Seele, sondern auch mit seinem Körper die Schwelle ins Paradies zu überschreiten.
Pauahtun hoffte, dass es ihm einst auch vergönnt sein würde, so aus der Welt zu scheiden – was voraussetzte, dass die Loge dann noch existierte und sich seiner sterblichen Überreste annahm.
So wie es gerade mit Huracan geschah.
Huracan, der von der Schrotladung im Haus der blinden Frau niedergestreckt worden und an den Folgen seiner schweren Verletzung gestorben war.
Die Loge hatte seinen übel zugerichteten Körper in den Stützpunkt gebracht, rituell gereinigt und so hergerichtet, dass er bei flüchtiger Betrachtung fast wie schlafend wirkte.
»Zieht ihn hoch!«, befahl Pauahtun mit tiefer Stimme.
Drei Logenmitglieder traten vor und griffen nach dem Seil, das über eine an der Decke befestigte Winde lief und um den Oberkörper des Leichnams gewickelt und verknotet war. Wenig später richtete sich der zuvor liegende Tote auf und verlor kurz darauf den Kontakt mit dem Boden. Als er kerzengerade etwa einen Meter darüber baumelte, signalisierte Pauahtun den Männern, innezuhalten.
Er selbst griff in die
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