05 - Der Kardinal im Kreml
Und diesen Mann verdammt Narmonow, unseren größten Helden - nach Lenin», beeilte sich der Akademiker hinzuzufügen. «Dieses Land braucht eine starke Hand. Das erkennt und versteht unser Volk.» Gerasimow nickte zustimmend und fragte sich, warum dieser taprige Greis immer wieder in dieselbe Kerbe hauen mußte. Die Partei hatte kein Interesse an einer starken Hand, die Partei selbst bestand aus tausend kleinen, zupackenden, raffenden Händen: den Mitgliedern des ZK, den kleinen Apparatschiks, die ihre Beiträge zahlten, Sprüche klopften, bis ihnen alles, was die Partei sagte, zum Halse heraushing, aber doch mitmachten, weil man nur so vorankam, und Vorankommen Privilegien bedeutete: ein Auto, Urlaub in Sochi, Blaupunkt-Radios...
Jeder hat seinen blinden Punkt, das wußte Gerasimow. Alexandrow war verborgen geblieben, daß so gut wie niemand mehr an die Partei glaubte, und er wäre entsetzt gewesen, wenn er gewußt hätte, daß sein junger Verbündeter nur auf die Macht aus war, die Macht als Selbstzweck, und nur den Status quo ante wiederherstellen wollte. Die Sowjetunion sollte weiterwursteln wie bisher, sicher in ihren Grenzen und bemüht, die Revolution in Länder zu exportieren, wo sich eine Gelegenheit bot. Und die Zügel würde Gerasimow in den Händen halten - unangefochten, mit dem KGB als Machtbasis. So hörte er sich Alexandrows Tiraden ruhig an und nickte hin und wieder. Außenstehende würden sich an die zahllosen Bilder erinnert gefühlt haben, auf denen Stalin hingerissen den Worten Lenins lauscht. Und wie Stalin hatte Gerasimow vor, diese Worte zu seinem Vorteil zu nutzen. Gerasimow glaubte an Gerasimow, und sonst an niemanden.
«Ich habe doch gerade erst gegessen!» sagte Mischa.
«Unsinn», erwiderte der Wärter und zeigte ihm die Uhr an seinem Handgelenk. «Sehen Sie doch selbst, wie spät es ist. Essen Sie rasch; bald geht es wieder zum Verhör.» Der Mann beugte sich vor. «Warum sagen Sie ihnen denn nicht einfach, was sie hören wollen, Genosse?»
«Weil ich kein Verräter bin!»
«Wie Sie wollen. Langen Sie zu.» Die Zellentür fiel ins Schloß.
«Ich bin kein Verräter», wiederholte Filitow, als er allein war. «Nein», hörte das Mikrophon, «ich bin keiner.»
«Langsam wird's», meinte Watutin.
Die Isolierhaft bewirkte im Endeffekt, was der Doktor mit der sensorischen Deprivation erreichen wollte: Der Gefangene verlor den Kontakt zur Realität, wenngleich sehr viel langsamer als Swetlana Wanejewa. Seine Zelle befand sich im Innern des Gebäudes; das Wechselspiel von Tag und Nacht bekam der Häftling also nicht mit. Die nackte Glühbirne brannte unentwegt. Nach wenigen Tagen hatte Filitow alles Zeitgefühl verloren. Dann zeigten seine Körperfunktionen erste Unregelmäßigkeiten. Man veränderte die Abstände zwischen den Mahlzeiten. Sein Körper spürte, daß etwas nicht stimmte, doch der Häftling war so desorientiert, daß er in einen der Geisteskrankheit vergleichbaren Zustand verfiel.
Eine klassische Technik, der nur wenige Individuen länger als zwei Wochen widerstehen konnten, und in solchen Fällen hatte man meist entdeckt, daß die erfolgreiche Resistenz unentdeckten Außenreizen wie Abwasser- oder Verkehrsgeräuschen zuzuschreiben war. Allmählich hatte man im Zweiten Direktorat des KGB gelernt, alle diese Störfaktoren auszuschalten. Der neue Sonderzellenblock war gegen die Außenwelt völlig schallisoliert. Um Gerüche zu eliminieren, hatte man die Küche ein Stockwerk höher eingebaut. Dieser Teil des Lefortowo-Gefängnisses reflektierte die Erfahrung von Generationen im Brechen des menschlichen Willens.
Besser als die Folter, dachte Watutin, denn die Folter zog unweigerlich auch die Vernehmenden in Mitleidenschaft. Wer auf diesem Gebiet zu große Fähigkeiten entwickelte, wurde allmählich geistig labil. Man konnte sich auf die Vernehmungsergebnisse nicht mehr verlassen und mußte den KGB-Offizier austauschen und gelegentlich sogar ins Krankenhaus schicken. In den dreißiger Jahren hatte man solche Männer einfach erschossen und durch andere ersetzt, bis die Interrogatoren nach kreativeren, intelligenteren Methoden zu suchen begannen. Die neuen Techniken fügten dem Subjekt keinen bleibenden körperlichen Schaden zu, und die bei der Vernehmung entstandenen seelischen Störungen wurden anschließend sogar behandelt. Die im Auftrag des KGB «behandelnden» Ärzte waren nun in der Lage, Landesverrat als Symptom einer schweren Geisteskrankheit zu diagnostizieren, die einer
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