05 - Der Kardinal im Kreml
radikalen Therapie bedurfte. So war die Angelegenheit für alle Beteiligten angenehmer: Wer einem tapferen Gegner Schmerzen zufügte, konnte Schuldgefühle entwickeln, doch wer einem Geisteskranken half, tat etwas Gutes. Und dieser Fall von Geisteskrankheit ist ganz besonders ernst, dachte Watutin sarkastisch und schaute über die Glasfaserverbindung in Filitows Zelle.
Wie lange arbeitest du schon für die Amerikaner? Seit dem Tod deiner nächsten Angehörigen? So lange? Fast dreißig Jahre... ist das denn möglich? fragte sich der Oberst vom Zweiten Direktorat. So lange hatte sich Kim Philby nicht gehalten, und Richard Sorges Karriere war zwar glänzend, aber kurz gewesen.
Der Oberst schüttelte den Kopf. Filitow war dreifacher Held der Sowjetunion, sein Kopf hatte die Titelseiten von Zeitschriften geziert, Durfte die Öffentlichkeit jemals erfahren, was er getan hatte? Wie würde das sowjetische Volk reagieren, wenn es hörte, daß aus dem alten Mischa, dem Helden von Stalingrad, ein Verräter an der Heimat geworden war? Der Effekt dieser Enthüllung auf die kollektive Moral mußte erst ausgelotet werden.
Nicht mein Problem, sagte er sich und beobachtete den alten Mann durch das High-Tech-Guckloch. Filitow war bemüht, sein Essen herunherzubekommen, wußte nicht, daß seit dem Frühstück - aus naheliegenden Gründen unterschieden sich die Mahlzeiten nicht voneinander - erst neunzig Minuten vergangen waren.
Watutin stand auf und streckte sich, um seine Rückenschmerzen zu lindern. Eine Nebenwirkung der neuen Technik war, daß sie auch den Tagesrhythmus der Vernehmenden durcheinanderbrachte. Es war kurz nach Mitternacht, und Watutin hatte im Lauf der vergangenen sechsunddreißig Stunden gerade sieben Stunden Schlaf gefunden. Aber er kannte wenigstens die Uhrzeit, den Tag und die Jahreszeit. Filitow, da war er sicher, wußte das nicht. Er beugte sich noch einmal vor und sah zu, wie das Subjekt die Schüssel Kascha (Buchweizengrütze) leerte.
«Holt ihn raus», befahl Oberst Klementi Wladimirowitsch Watutin und ging in den Waschraum, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Er schaute in den Spiegel: rasieren überflüssig. Dann überzeugte er sich davon, daß seine Uniform perfekt saß. Gesicht und äußere Erscheinung des Vernehmenden waren die einzigen Konstanten in der wirren Welt des Häftlings. Watutin studierte sogar im Spiegel seine Miene ein: stolz, arrogant, aber auch mitfühlend. Er schämte sich des Anblicks nicht. Du bist ein Fachmann, sagte er sich, kein Barbar oder Perverser, sondern ein Mann, der eine schwierige und wichtige Aufgabe erledigt.
Watutin saß wie immer im Vernehmungszimmer, als der Gefangene hereingeführt wurde, schien wie immer beschäftigt zu sein und hob leicht überrascht den Kopf, als wollte er sagen: Ach, sind Sie schon wieder dran?
Filitow setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Gut, dachte Watutin. Man braucht dem Subjekt nicht zu sagen, was es zu tun hat. Es konzentrierte sich auf seine einzige Realität: Watutin.
«Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen», sagte er zu Filitow.
«Es ging», lautete die Antwort. Die Augen des alten Mannes waren trüb, hatten nicht mehr den Glanz, den Watutin bei den ersten Sitzungen bewundert hatte.
«Ich hoffe doch, daß Sie anständig verpflegt werden?»
«Ich habe auch schon besseres Essen vorgesetzt bekommen.» Ein müdes Lächeln; dahinter noch ein wenig Trotz und Stolz. «Aber auch schon schlechteres.»
Watutin schätzte leidenschaftslos die Stärke des Gefangenen ab; sie hatte nachgelassen. Du weißt, daß du verlieren mußt, Filitow.
Es ist doch sinnlos, Mischa, dachte Filitow. Die Zeit ist auf seiner Seite er ist Herr über die Zeit. Er hat alles darauf angelegt, dich zu zerbrechen. Er ist am Gewinnen. Das weißt du.
Genosse Hauptmann, warum denken Sie solchen Unsinn? fragte eine vertraute Stimme. Auf dem Rückzug von Brest-Litowsk bis Wjasma wußten wir, daß wir verlieren, aber aufgegeben haben wir deshalb nicht. Sie haben der deutschen Armee getrotzt. Da können Sie doch bestimmt diesem schleimigen Tschekisten trotzen?
Danke, Romanow.
Wie sind Sie nur ohne mich ausgekommen, mein Hauptmann? fragte die Stimme lachend.
Watutin sah, daß sich etwas verändert hatte. Die Augen waren klar, der müde alte Rücken reckte sich.
Was hält dich aufrecht, Filitow? Der Haß?
«Sagen Sie», meinte Watutin, «warum hassen Sie die Heimat eigentlich so?»
«Falsch», erwiderte Filitow. «Ich habe für die Heimat getötet, geblutet und gebrannt.
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