05 - Der Kardinal im Kreml
Tonnen tauchten auf; nun wußte er, wie weit es noch bis zur
Küste war. Er setzte die Geschwindigkeit auf zehn, fünf, dann drei
Knoten herab. Das Summen des Elektromotors war kaum hörbar. Clark
legte die Pinne um und steuerte auf eine wacklige Anlegestelle mit vom
Eis vieler Winter abgewetzten und splittrigen Pfählen zu. Er schaute
durch sein Nachtsichtgerät und suchte die Gegend ab. Nirgendwo Bewegung. Dann klangen Geräusche übers Wasser; hauptsächlich von
Autos, auch Musik. Es war immerhin Freitagabend; in den Restaurants
wurde wohl gefeiert und getanzt. Sein Plan kalkulierte das Nachtleben
sogar ein - in Estland geht es lebhafter zu als im Rest des Landes -, aber
an der Anlegestelle war niemand. Er legte an und machte sein Boot sehr
sorgfältig fest - wenn es wegtrieb, saß er in der Tinte. Dann schlüpfte er
aus seinem Overall, nahm die Pistole und kletterte eine Leiter hinauf.
Zum ersten Mal fiel ihm der typische Hafengeruch auf: Bilgenöl und
faulendes Holz. Im Norden war ein Dutzend Fischerboote vertäut; im Süden wurde offenbar eine neue Hafenanlage gebaut. Clark schaute auf seine Uhr, eine abgewetzte russische «Pilot», und suchte nach einem Platz, an dem er sich verstecken und abwarten konnte. Noch vierzig Minuten Zeit. Bei der Berechnung der Fahrzeit hatte er kabbelige See einkalkuliert. Nun gab ihm die Flaute nur zusätzliche Gelegenheit, über den Wahnwitz dieser ganzen Operation nachzudenken.
Boris Filipowitsch Morosow ging an seiner Baracke entlang und schaute zum Himmel. Die Scheinwerfer bei Heller Stern verwandelten den Himmel in einen niedrigen Dom aus fallenden Flocken.
«Wer da?» fragte eine Stimme mit Autorität.
«Morosow», antwortete der junge Ingenieur, als eine Gestalt ins Licht kam. Er sah die breite Mütze eines hohen Armeeoffiziers.
«Guten Abend, Genosse Ingenieur. Sie sind beim Spiegelteam, nicht wahr?» fragte Bondarenko.
«Kennen wir uns?»
«Nein.» Der Oberst schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, wer ich bin?»
«Jawohl, Genosse Oberst.»
Bondarenko wies zum Himmel. «Herrlich, nicht wahr? Eine Entschädigung für das Leben in dieser Wildnis.»
«Das macht nichts, Genosse Oberst. Wir stehen an der vordersten Linie einer bedeutsamen Entwicklung.»
«Das hört man gern! Denkt Ihr ganzes Team so?»
«Jawohl, Genosse Oberst. Ich habe mich freiwillig gemeldet.»
«So? Woher wußten Sie denn von der Existenz dieses Projekts?» fragte der Oberst verwundert.
«Ich war vergangenen Herbst mit dem Komsomol hier und ahnte, woran hier gearbeitet wird», erwiderte Morosow und fügte hinzu: «Da wußte ich, wohin ich wollte.»
Bondarenko musterte den jungen Mann mit sichtbarem Wohlwollen. «Wie läuft die Arbeit?»
«Ich hatte mich als Student mit Lasern beschäftigt und gehofft, auch auf diesem Gebiet eingesetzt zu werden, aber mein Abteilungsleiter steckte mich zu den Spiegeln.» Morosow lachte.
«Fühlen Sie sich dort nicht wohl?»
«Doch - bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wußte nur nicht, wie wichtig die Spiegelgruppe ist. Inzwischen habe ich dazugelernt. Wir versuchen nun, die Spiegel einer präziseren Computersteuerung anzupassen. Und ich werde vielleicht bald stellvertretender Abteilungsleiter», erklärte Morosow stolz. «Mit Computern kenne ich mich nämlich auch aus.»
«Wer ist Ihr Abteilungsleiter? Goworow?»
«Jawohl. Ein brillanter Ingenieur, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Kann ich Sie etwas fragen?»
«Gewiß.»
«Gerüchten zufolge sollen Sie der neue stellvertretende Leiter des Projekts werden.»
«Da mag etwas dran sein», gestand Bondarenko zu.
«Darf ich dann einen Vorschlag machen, Genosse? » fragte Morosow.
«Nur zu.»
«Es gibt hier viele Junggesellen -»
«Und nicht genug unverheiratete Frauen?»
«Laborassistentinnen werden jedenfalls gebraucht.»
«Ich werde mir Ihren Vorschlag merken, Genosse Ingenieur», erwiderte Bondarenko lachend. «Es ist auch ein Wohnblock geplant, um die Enge zu lindern. Wie ist es in den Baracken?»
«Die Atmosphäre ist kameradschaftlich. Und die Astronomie- und Schachgruppen sind sehr aktiv.»
«Ah, ich habe schon lange nicht mehr richtig Schach gespielt. Ist die Konkurrenz hart?» fragte der Oberst.
Der jüngere Mann lachte. «Ja - sogar fanatisch.»
Fünftausend Meter weiter dankte der Bogenschütze Allah. Es schneite, und die Flocken erzeugten jenen Zauber, den Poeten und Soldaten so lieben. Die Stille war hör-, ja fühlbar, als der Schnee alles Geräusch verschluckte. Rundum reduzierte ein weißer Vorhang
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