050 - Monsterburg Höllenstein
frühmorgens aufzustehen,
haßte sie es noch mehr, sich keine Zeit für das Frühstück zu nehmen und es
hinunterzuschlingen. Zwanzig Minuten kalkulierte sie stets dafür ein. Sie nahm
einen ersten Schluck von dem heißen Kaffee, setzte sich nieder und blätterte in
der Fernsehzeitung, um nachzusehen, was im heutigen Abendprogramm vorgesehen
war, als die Türklingel anschlug. Jessica Paine war irritiert.
»Nanu?« entfuhr es ihr.
»Wer ist denn um diese Zeit an der Tür?« Sie ging in den Flur und nahm den
Hörer der Sprechanlage ab. »Ja?« fragte sie leise. »Eilboten, Miß Paine…«
»Kommen Sie bitte hoch.«
Sie drückte auf den Türöffner. Bis der Briefträger kam, würde eine Minute
vergehen. Sie wohnte im zehnten Stock eines Apartmenthauses in der Adams
Street. Jessica Paine warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, fuhr sich noch
mal durchs Haar und kontrollierte ihr Make-up. Sie konnte sich nicht erinnern,
jemals eine Eilboten-Mitteilung erhalten zu haben. Und sie konnte sich auch
nicht vorstellen, wer ihr einen so wichtigen Brief schicken sollte.
Wahrscheinlich lag ein Irrtum vor, und der Briefträger hatte sich in der
Hausnummer geirrt… Vielleicht gab es noch eine andere Jessica Paine in der
gleichen Straße… Der Name war in Chicago nicht selten, obwohl die Familie aus
dem tiefen Süden stammte.
Jessica stand an ihrer
Tür, als der Lift in der Etage ankam. Der Postbote war nicht viel älter als
Jessica, sah ebenfalls blaß und verschlafen aus. Es handelte sich nicht nur um
einen Eilbotenbrief, sondern auch noch um ein Einschreiben.
Jessica Paine vergewisserte sich, daß der Brief wirklich an sie gerichtet war.
Der beige Umschlag trug ihren Namen und ihre genaue Adresse. Der Absender war
der Chicagoer Anwalt Dr. Anthony Harper. Die junge Frau wurde nervös.
Offizielle Schreiben hatten stets eine solche Wirkung auf sie. Der Postbote war
noch nicht wieder im Lift, als sie den Umschlag schon aufriß. Das Schreiben war
nur wenige Zeilen lang.
Sie werden gebeten, in
einer Erbschaftsangelegenheit umgehend in meinem Office zu erscheinen. Harper.
Nachdenklich zog die
junge Amerikanerin die Tür hinter sich ins Schloß. Hatte sie etwas geerbt?
Sie las den Text ein
zweites und ein drittes Mal. Der Text war mit Maschine geschrieben, nicht
vorgedruckt. Auch die ungewöhnliche Formulierung verwirrte sie. Normalerweise
war in solchen Fällen ein präziser Termin genannt. Anthony Harper hatte sein
Büro am anderen Ende der Stadt in einem alten Haus, das mit seinen roten
Ziegelsteinen an ein Fabrikgebäude erinnerte. Die Sekretärin war zufällig schon
mal dort gewesen und hatte persönlich Akten abgeholt, die nicht mit der Post
zugestellt werden sollten.
Jessica Paine trank
ihren Kaffee hastiger, nahm entgegen ihrem Willen den Toast schneller zu sich
und brachte nur wenig hinunter. Der ungewöhnliche Tagesanfang irritierte sie.
Der Gedanke, unerwartet eine Erbschaft, womöglich noch eine große, gemacht zu
haben, regte ihre Phantasie an.
Vor sieben war es
unmöglich, in ihrem Büro jemand zu erreichen. Aber ab diesem Zeitpunkt hielt
sich Jeremias Tobb in der Gemeinschaftspraxis auf. Tobb war zweiundsiebzig,
fungierte früher als Richter und verdiente sich nach seiner Pensionierung noch
ein Zubrot. Jeremias Tobb war Mädchen für alles, wußte über alles Bescheid,
bereitete die Arbeiten vor, verteilte frühmorgens schon die Post in den
einzelnen Abteilungen und hatte darüber hinaus ein phänomenales Gedächtnis.
Namen und Zahlen waren seine Stärke. Wenn eine Akte gesucht wurde, Tobb fand
sie und kannte den Vorgang. Punkt sieben war der Mann im Büro. Nach zweimaligem
Klingeln nahm er den Hörer ab. »Morning, Jerry. Ich bitte Sie, mich für die
nächsten Stunden bei den Chefs zu entschuldigen.«
»Nanu, Miß Paine. Sind
Sie krank?«
»Nein. Ich bin bei einem
anderen Anwalt bestellt.« Drei Sekunden herrschte betretenes Schweigen. »Heh,
Miß Paine!« entfuhr es dem Gesprächspartner am anderen Ende der Strippe dann
überrascht. »Soll das heißen, Sie wollen uns… verlassen?«
»Wer weiß, Jerry. Das
kommt darauf an, was sich aus dem Besuch ergibt.«
»Hat man Ihnen mehr
geboten?«
»Nein, Jerry. Darum geht
es nicht. Ich soll mich wegen einer Erbschaftsangelegenheit sehen lassen.«
»Oh, Sie haben geerbt?
Verraten Sie mir, was…«
»Tut mir leid, Jerry.
Ich weiß es ja selbst noch nicht. Wenn es eine Million ist, häng ich meinen
Beruf an den Nagel. Aber so weit wird es wohl nicht kommen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher